Gedenken an Reichspogromnacht
Schwarze Katze, 9. November 2005
abgedruckt im Schwarze Katze Rundbrief 10.01.06

9. November 1938 im Deutschen Reich:

Die Nazis nehmen Schüsse auf den deutschen Legationssekretär Ernst vom Rath in Paris zum willkommenen Anlass eine reichsweite Judenverfolgung zu starten. Neben braunen Parteikadern bereichern sich nach dem 9. November im ganzen Reich deutsche Nachbarn an der Arisierung, also dem Raub jüdischen Eigentums. Die antisemitischen Aktionen werden von der NSDAP gesteuert.

Reichspropagandaminister Joseph Goebbels schreibt zu den von oben organisierten Gewalttaten in sein Tagebuch:
"Ich trage dem Führer die Angelegenheit vor. Er bestimmt: Demonstrationen weiterlaufen lassen. Polizei zurückziehen. Die Juden sollen einmal den Volkszorn zu verspüren bekommen. Das ist richtig. Ich gebe gleich entsprechende Anweisungen an Polizei und Partei."

Die Kirche macht sich mitschuldig

Christliche Pfarrer tragen durch das Zurverfügungstellen der Kirchenbücher zur Verhaftung und Ermordung von Juden bei. Die Nazis können ideologisch am christlichen Antijudaismus anknüpfen und führen aus, was Martin Luther für Juden forderte: "dass man ihre Synagogen oder Schulen mit Feuer anstecke, ... dass man auch ihre Häuser desgleichen zerbreche und zerstöre".

Dietrich Eckart zitiert 1924 Adolf Hitler in seinem Buch "Zwiegespräche zwischen Adolf Hitler und mir":
"Luther war ein großer Mann, ein Riese. Mit einem Ruck durchbrach er die Dämmerung; sah den Juden, wie wir ihn erst heute zu sehen beginnen."

Noch immer werden Strassen und Gebäude nach dem Judenhasser Martin Luther benannt. Nicht nur die evangelische auch die katholische Kirche macht während der Nazizeit Stimmung gegen jüdische Menschen während sich Anarchistinnen und Anarchisten unter Lebensgefahr gegen Antisemitismus und anderen Rassismus einsetzen. Die anarchistische Punkband Slime kritisiert in ihrem Lied "Religion" die Machtbessenheit der Kirche: "Ihr habt die Bombe gesegnet die auf Hiroshima fiel. Auch mit Hitler und Mussolini habt ihr euch solidarisiert. Es ist egal, wer an der Macht ist, denn ihr seid immer dabei. Ihr nehmt den Menschen das Denken ab. Mit eurer Heuchelei."

9. November in Iserlohn

Iserlohn, 9. November 1938: Iserlohner NSDAP-Parteimitglieder plündern am 9. November 1938 die jüdischen Geschäfte in der Innenstadt. Sie schlagen die Fensterscheiben ein und stehlen was sie tragen können. Ausserdem zünden sie die Iserlohner Synagoge an und hindern die Feuerwehr am Löschen, indem sie die Verbindungsstücke der Wasserschläuche aufschrauben. Folge: Von der Synagoge bleibt nichts mehr übrig. Die Lokalzeitung IKZ stellt ebenso wie andere gleichgeschaltete Blätter die von der NSDAP organisierten Zerstörungen wahrheitswidrig als berechtigte Gegenreaktion der Deutschen dar. Ein dunkles Kapitel der Iserlohner Pressegeschichte:

"Noch in der gestrigen Nachmittags- und Abendstunden zogen immer wieder Volksgenossen an den jüdischen Geschäften EHRLICH, WALDBAUM, STEINBERGER, WIESEN, HANSTEIN usw. vorbei. Auf allen Gesichtern malte sich vollste Genugtuung darüber aus, dass die feige jüdische Mordtat eine eindeutige Antwort im ganzen Reich gefunden hat. (Attentat auf v. Rath)"
Iserlohner Kreisanzeiger und Zeitung, 11.11.1938

Iserlohn, 9. November 2005: Das mit 100 Menschen gut besuchte Gedenken findet vor dem jüdischen Gedenkstein in der Mendener Strasse am ehemaligen Standort der Synagoge statt. Vor dem Iserlohner Mahnstein für die abgebrannte Iserlohner Synagoge liegt ein Korb mit weissen Steinen. Diese werden auf den mit Davidsstern gekennzeichneten Mahnstein gelegt. Hintergrund: Einer jüdischen Tradition folgend werden Steine auf den Grabstein gelegt. Ein Redner erläutert die Motivation: "Mit tiefer Verneigung vor allen jüdischen Opfern aus Iserlohn und ganz Deutschland legen wir diese Steine nieder und wollen damit ein wenig Gerechtigkeit denen zukommen lassen, die verfolgt und getötet wurden."

Ein anderer Redner erwähnt die Aktion Stolpersteine, die 2006 in Iserlohn gestartet wird. Schülerinnen und Schüler von fünf Iserlohner Schulen werden zur Erinnerung an Opfer des Holocaust kleine Messingplatten in den Gehweg einlassen. Nach antirassistischen Redebeiträgen gehen wir zum Mahnmal an die Opfer des Faschismus. Neben der Abschlussrede Am Poth wird ein Kranz mit der Aufschrift "In stillem Gedenken an die Reichspogromnacht" niedergelegt.

Iserlohner Gedenkveranstaltung
Fotos: Schwarze Katze, 09.11.05


Mahnstein für die Synagoge an der Mendener Strasse
Korb mit Steinen nach einem jüdischen Brauch

Iserlohner Kranzaufschrift Am Poth:
In stillem Gedenken an die Reichspogromnacht

Steine werden auf den Mahnstein gelegt

Abschluss am Mahnmal für die Opfer des Faschismus

Die Antifa Arbeitsgruppe der Schwarzen Katze erstellt für die Iserlohner Gedenkveranstaltung zur Reichspogromnacht ein lokalbezogenes Flugblatt gegen Antisemitismus. Hemeraner und Iserlohner Gedenkende nehmen diesen Text interessiert auf. Darin schildert eine Iserlohner Zeitzeugin, wie sie und ihre jüdischen Verwandten den 9. November 1938 erlebten:

Eine Iserlohnerin erinnert sich an die Reichspogromnacht
aus einer Schwarze Katze Radiosendung zum 9. November

Schwarze Katze AG Antifa Flugblatt gegen Antisemitismus

Also wenn ich hier zu Ihnen spreche, tue ich das als einer der Menschen, der von den unseligen Ereignissen der Reichspogromnacht direkt betroffen war. Ich tue es, weil ich meine, dass die, die diese Zeit noch miterlebt haben, ihre Stimme erheben müssen, in Zeiten, in denen Gewalt und Rassismus wieder bedrohlich aktuell sind. Ich bin als sogenannte "Halbjüdin" in Iserlohn geboren. Allerdings war ich 1938 erst 5 Jahre alt. An die brennende Synagoge habe ich keine Erinnerung. Aber an diesen Tag.

Ich weiß noch sehr gut, welche Aufregung bei uns herrschte, als mein Bruder die Nachricht nach Hause brachte: "Die Synagoge brennt! Und nicht nur in Iserlohn, sondern in ganz Deutschland." Meine Mutter versuchte immer wieder, meine Großmutter und meine Verwandten in Schmallenberg telefonisch zu erreichen. Sie weinte, telefonierte, immer wieder und bekam keine Verbindung mit keinem der Schmallenberger Juden. Dann schnappte ich den Satz auf: "Sie sind alle verhaftet". Für mich verbrannte nicht eine Synagoge, für mich verbrannte eine Welt. Meine geliebte Großmutter, meine Verwandten im Gefängnis, Verbrecher? Ich konnte das nicht glauben. An diesem Tag verbrannte für viele Menschen eine Welt. Auch für die - und vor allem für die - die sich bis dahin für Mitbürger gehalten hatten. Ein Vetter meiner Mutter kam nach drei Tagen wieder zurück nach Schmallenberg, er war in Sachsenhausen gewesen. Er konnte und durfte nicht über das Erlebte sprechen, aber er war schon ein gebrochener Mann, ehe er nach Auschwitz kam.

In Schmallenberg, diesem damals kleinen Ort im Hochsauerland, dem Geburtsort meiner Mutter, kannten sich alle Bewohner untereinander. Sie hatten die gleiche Schule besucht, die gleiche Tanzschule und dieselben Feste. Die jüdischen Familien teilten das Gemeindeleben. Mit allen Rechten und mit allen Pflichten. Zur Fronleichnamsprozession errichteten meine Verwandten beispielsweise, so wie alle anderen Bewohner von Eckhäusern, einen Triumphbogen. Das gehörte sich so. Mit den Mauern der Synagoge brannten alle diese Bindungen ab.

Unerklärlich und unverständlich wie Menschen, die von Kindheit an Freunde waren, in Gemeinschaft gelebt haben, zu Verbrechern gemacht wurden. Menschen, die ihr Leben bis dahin geteilt hatten, wagten nicht mehr sich zu grüßen. Freunde von Kindheit an. Wer kann ermessen, was in diesen zwischenmenschlichen Beziehungen abgebrannt ist. Wie kann man als Kind damit leben? Misstrauen, Feindseligkeit, Kälte. Eine Mauer, ähnlich dem Panzer von Hochmut und Verachtung, wie ich ihn um mich gebaut hatte, den "germanischen Herrenmenschen" gegenüber.

Wann werden wir endlich alle Mauern, alle Panzer durchbrechen? Wann werden wir endlich im Gegenüber den Menschen sehen? Wann werden wir endlich die Würde des Anderen achten? Wann wird uns der Nächste wirklich zum Nächsten - auch wenn er uns noch so fremd ist? Nochmals möchte ich betonen: Ich spreche hier von mir und meiner Familie, weil ich Sie bitten möchte, vergessen Sie diese Zeit nicht. Und nicht diese Erfahrungen. Da mögen noch so berühmte Schriftsteller und Politiker anderer Meinung sein, wir müssen uns erinnern, wenn wir etwas verändern wollen. Es geht mir nicht um Schuld und Vorwürfe. Sondern es geht mir darum aufzuzeigen, was Menschen aus Menschen machen können.

Und ich möchte nicht sagen müssen, wie es in einem Text von Regina Schwarz heisst: "Aller Mut ist uns verreckt. Wieder den Kopf in den Sand gesteckt. Von dem Hassgebrüll nicht aufgeschreckt. Und das Wort ist uns verreckt. Wieder den Kopf in den Sand gesteckt. Vom Fensterklirren nicht hochgeschreckt. Und die Tat ist uns verreckt. Vom Beifallklatschen nicht wachgeschreckt. Immer weiter den Kopf in den Sand gesteckt."

9. November in Lüdenscheid

Lüdenscheid, 9. November 1938: In Lüdenscheid war es nicht so schlimm. Das ist die Meinung der meisten alten LüdenscheiderInnen. Das stimmt, wenn man die Zahl von "nur" etwa hundert Zivilisten ansieht, die bei Kriegshandlungen in Lüdenscheid ums Leben kamen. Die Alliierten hatten die grosse Rüstungsindustrie in Lüdenscheid nicht erkannt und die Stadt deshalb nicht bombardiert. Aber nur auf diesen Bereich trifft das Urteil der alten Lüdenscheider zu. Die Zahl von 2.700 gefallenen Soldaten in der Stadt und im Amt Lüdenscheid, die Zahl von mehr als 700 ermordeten und verhungerten Zwangsarbeitern in den Fabriklagern und im Arbeitserziehungslager Hunswinkel, die Zahl von mindestens 58 Euthanasieopfern, davon 36 jüdischen, passen nicht zu dem Urteil vieler alter Lüdenscheider.

Forschungen der letzten Jahre haben gezeigt, dass die menschlichen Abgründe von Rassismus und Antisemitismus noch grösser waren, als das bisher bekannt wurde. Am Morgen des 10. Novembers 1938 drangen Uniformierte in die beiden letzten von früher 10 jüdischen Geschäften und zerstörten sie. Die Ware wurde auf den Adolf-Hitler-Platz gebracht. Die Polizei war über die Gewalttaten informiert und arbeitete im Hintergrund mit. Sie inhaftierte in Lüdenscheid genauso wie in allen anderen Orten Deutschlands die jüdischen Männer. Sie wurden in die Kellerzellen der Polizei gebracht, die ihr Büro im Alten Rathaus hatte. Von dort brachte sie ein heimischer Unternehmer nach Dortmund. Hier wurde ein Sammeltransport ins KZ Sachsenhausen zusammengestellt. Weihnachten kamen die Männer nach vielen Misshandlungen zurück und mussten unter Anleitung der hiesigen Finanz- und Rathausmitarbeiter ihre Geschäfte räumen und aufgeben. Jüdische Mitbürger durften nun nicht mehr arbeiten und nichts mehr verdienen, auch durften sie nur eine kleine Summe je Monat von ihrem Konto abholen.

Nur noch nachmittags zwischen 16 und 17 Uhr durften sie einkaufen. Im Krieg war dann oft nicht mehr viel in den Geschäften zu finden. Wer als Christ mit einem jüdischen Partner verheiratet war, wurde dauernd von der Geheimen Staatspolizei in die Friedrichstrasse eingeladen und aufgefordert, sich von dem jüdischen Partner zu trennen. Um dem Nachdruck zu verleihen, wurde den christlichen Partnern fast alles weggenommen: Bücher, Fahrrad, Radio, Kleidung und sogar die Wohnung. Die christlichen Partner wurden in Einzelräume von Sozialbaracken eingewiesen, z. B. am Laubahner Weg.

Generalstabsmässig wurde die Verhaftungswelle im April 1942 durchgeführt. Die hiesige Polizei forderte das Amtsgericht auf, Haftzellen für die Verhaftungsaktion zur Verfügung zu stellen. Das hiesige Amtsgericht stellte seine Zellen zur Verfügung und durfte dafür eigene Gefangene nach Hagen bringen. Es sind keine Dokumente darüber bekannt, wie viele Juden der Region Lüdenscheid im April 1942 inhaftiert und zur Ermordung in den Osten deportiert wurden. Dort trafen sie wieder auf deutsche Uniformierte. Es waren die Polizeibataillone, die von den Polizeipräsidien im Auftrag der Nationalsozialisten und der SS aufgestellt wurden. Mindestens 55 der 81 Lüdenscheider Polizisten waren in Polizeibataillonen an der Ostfront und auf dem Balkan am Holocaust beteiligt. Ein Teil des Dortmunder Polizeibataillons 61 stellte die Wachmannschaft für das Arbeitserziehungslager Hunswinkel, wo 550 Inhaftierte, darunter 2 jüdische, "den Tod fanden".

Lüdenscheid, 9. November 2005: In Lüdenscheid findet eine Gedenkveranstaltung an die Reichspogromnacht statt. Die Friedensgruppe Lüdenscheid führt während der Zeit von 17.30 Uhr bis 18.30 Uhr vor den Haftzellen des Alten Rathauses an der Wilhelmstrasse eine Mahnwache durch. Diese Mahnwache steht unter dem Motto "Nie wieder Faschismus". Zum Gedenken werden Kerzen aufgestellt.