Eine Iserlohnerin erinnert sich an die Reichspogromnacht
aus einer Schwarze Katze Radiosendung zum 9. November

Schwarze Katze Flugblatt gegen Antisemitismus

Also wenn ich hier zu Ihnen spreche, tue ich das als einer der Menschen, der von den unseligen Ereignissen der Reichspogromnacht direkt betroffen war. Ich tue es, weil ich meine, dass die, die diese Zeit noch miterlebt haben, ihre Stimme erheben müssen, in Zeiten, in denen Gewalt und Rassismus wieder bedrohlich aktuell sind. Ich bin als sogenannte "Halbjüdin" in Iserlohn geboren. Allerdings war ich 1938 erst 5 Jahre alt. An die brennende Synagoge habe ich keine Erinnerung. Aber an diesen Tag.

Ich weiß noch sehr gut, welche Aufregung bei uns herrschte, als mein Bruder die Nachricht nach Hause brachte: "Die Synagoge brennt! Und nicht nur in Iserlohn, sondern in ganz Deutschland." Meine Mutter versuchte immer wieder, meine Großmutter und meine Verwandten in Schmallenberg telefonisch zu erreichen. Sie weinte, telefonierte, immer wieder und bekam keine Verbindung mit keinem der Schmallenberger Juden. Dann schnappte ich den Satz auf: "Sie sind alle verhaftet". Für mich verbrannte nicht eine Synagoge, für mich verbrannte eine Welt. Meine geliebte Großmutter, meine Verwandten im Gefängnis, Verbrecher? Ich konnte das nicht glauben. An diesem Tag verbrannte für viele Menschen eine Welt. Auch für die - und vor allem für die - die sich bis dahin für Mitbürger gehalten hatten. Ein Vetter meiner Mutter kam nach drei Tagen wieder zurück nach Schmallenberg, er war in Sachsenhausen gewesen. Er konnte und durfte nicht über das Erlebte sprechen, aber er war schon ein gebrochener Mann, ehe er nach Auschwitz kam.

In Schmallenberg, diesem damals kleinen Ort im Hochsauerland, dem Geburtsort meiner Mutter, kannten sich alle Bewohner untereinander. Sie hatten die gleiche Schule besucht, die gleiche Tanzschule und dieselben Feste. Die jüdischen Familien teilten das Gemeindeleben. Mit allen Rechten und mit allen Pflichten. Zur Fronleichnamsprozession errichteten meine Verwandten beispielsweise, so wie alle anderen Bewohner von Eckhäusern, einen Triumphbogen. Das gehörte sich so.

Mit den Mauern der Synagoge brannten alle diese Bindungen ab. Unerklärlich und unverständlich wie Menschen, die von Kindheit an Freunde waren, in Gemeinschaft gelebt haben, zu Verbrechern gemacht wurden. Menschen, die ihr Leben bis dahin geteilt hatten, wagten nicht mehr sich zu grüßen. Freunde von Kindheit an. Wer kann ermessen, was in diesen zwischenmenschlichen Beziehungen abgebrannt ist. Wie kann man als Kind damit leben? Misstrauen, Feindseligkeit, Kälte. Eine Mauer, ähnlich dem Panzer von Hochmut und Verachtung, wie ich ihn um mich gebaut hatte, den "germanischen Herrenmenschen" gegenüber.

Wann werden wir endlich alle Mauern, alle Panzer durchbrechen? Wann werden wir endlich im Gegenüber den Menschen sehen? Wann werden wir endlich die Würde des Anderen achten? Wann wird uns der Nächste wirklich zum Nächsten - auch wenn er uns noch so fremd ist? Nochmals möchte ich betonen: Ich spreche hier von mir und meiner Familie, weil ich Sie bitten möchte, vergessen Sie diese Zeit nicht. Und nicht diese Erfahrungen. Da mögen noch so berühmte Schriftsteller und Politiker anderer Meinung sein, wir müssen uns erinnern, wenn wir etwas verändern wollen. Es geht mir nicht um Schuld und Vorwürfe. Sondern es geht mir darum aufzuzeigen, was Menschen aus Menschen machen können.

Und ich möchte nicht sagen müssen, wie es in einem Text von Regina Schwarz heisst: "Aller Mut ist uns verreckt. Wieder den Kopf in den Sand gesteckt. Von dem Hassgebrüll nicht aufgeschreckt. Und das Wort ist uns verreckt. Wieder den Kopf in den Sand gesteckt. Vom Fensterklirren nicht hochgeschreckt. Und die Tat ist uns verreckt. Vom Beifallklatschen nicht wachgeschreckt. Immer weiter den Kopf in den Sand gesteckt."

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