Nun, wo standen wir denn? Ach ja...Ausgangspunkt ist die Erkenntnis, dass, wer radikale soziale Veränderung will, sich nicht auf den politischen Bereich beschränken kann. Spätestens die Frauenbewegung hat gezeigt, dass durch diese Beschränkungen bzw. bewusste Trennungen Herrschaftsverhältnisse verdeckt und stabilisiert werden. Geschlechterrollen, Sexismus und Rassismus lassen sich nicht einfach politisch abschaffen, da sie alle auf sozialen Konstruktionen basieren, die fest in der herrschenden Kultur verankert sind und durch sie ständig weitergegeben werden. Nun, ebenso romantisch ist auch die Vorstellung, mit der formalen Aufhebung des Privateigentums gäbe es von der einen zur anderen Sekunde keine Herrschaft mehr. So stützen z.B. die geschlechtsspezifische Rollenzuweisungen die kapitalistischen Produktion wunderbar, sie sind aber nicht aus dieser ableitbar. Und Anarchismus zeichnet sich für uns gerade dadurch aus, dass entgegen vereinfachenden Erklärungen (Kapitalismus ist an allem schuld...) alle Lebensbereiche hinterfragt werden. Wir sehen eine Notwendigkeit, anarchistische Praxis auch auf kultureller Ebene zu verwirklichen. So, jetzt aber bitte nicht auf Kultur stürzen...
Kultur ist in sich herrschaftsförmig - so ein Mist aber auch. Für uns ist es nicht denkbar, wie mensch sich einfach positiv auf Kultur beziehen kann. Und für uns auch gar nicht so klar, ob anarchistische Kultur erstrebenswert ist. Deshalb geht es im folgenden erst einmal darum, was wir unter Kultur verstehen.
Kultur ist ein System von Bedeutungen, Zuschreibungen und sozialen Konstruktionen, welches die gesamte Gesellschaft durchzieht und Menschen samt all ihrer Beziehungen formt. Was...Zuschreibungen, ich sehe...das bedarf näherer Erklärung: Nun, z.B. das blaue Babywäsche für Jungen da sein soll und Röcke für Mädchen ist nix Natürliches, sondern ein Produkt einer sexistischen Kultur. Die Bedeutung von Kleidung, Gesten und Symbolen steckt nicht in ihnen selbst, sondern wird zugeschrieben, hergestellt - ist also veränderbar.
Aber es kommt noch dicker: Wagemutige gehen gar davon aus, dass Menschen nicht als Mann | Frau auf die Welt kommen, sondern dazu gemacht werden. Über ständige Zuschreibungen von Eigenschaften und Wertigkeiten werden die scheinbar einheitlichen Gruppen Frau | Mann erzeugt. Geschlechter werden hier als eine soziale Konstruktion verstanden, die historisch entstanden ist. Das ist ein Bruch mit dem Dogma, dass (Zwei-)Geschlechtlichkeit eine natürliche, vorgesellschaftliche Tatsache sein soll. Und damit grenzen wir uns grundlegend von jeglichem Biologismus ab, d.h. Erklärungsmustern, welche die Geschlechter - inklusive Sexismus und Patriarchat - als angeborene Natur verkauft und ihre soziale Veränderung oder gar Aufhebung aussichtslos erscheinen läßt.
Unser Mann | Frausein samt der zugewiesenen Eigenschaften (stark - schwach, emotional - rational usw.) ist das Ergebnis von Erziehung und kulturell fest verankerten Rollenbildern, die uns im Fernsehen, Videoclips, Werbung, auf Plakaten und überall sonst begegnen. Auch das herrschende Bild von Kindern als Minder-Menschen ohne eigene Sexualität, ohne Gespür für das für sie selbst Richtige, ist eine soziale Konstruktion, mit welcher die Erziehung und Gewalt der Erwachsenen untermauert wird. Nun und das fast alle Menschen sich als Mann | Frau fühlen und sich dementsprechend stereotyp verhalten spricht nicht zwingend für die Annahme, dass es biologische Geschlechter gibt, sondern zeigt für uns, wie erschreckend tief - und effektiv! - die gesellschaftliche Normierung in unser aller Leben eingreift.
In Kultur steckt ein geheimer, unterschwelliger Lehrplan: Lesungen, Konzerte und sonstige Aufführungen folgen bestimmten, immer wiederholten Mustern, Regeln und Vorgaben. Publikum und Bühne sind klar getrennt, das Scheinwerferlicht ist auf die KünstlerInnen gerichtet. Damit wird eine klassische Schulsituation hergestellt, die sich deutlich im Verhalten der Anwesenden nieder schlägt. So wagt sich z.B. keine der ZuschauerInnen, die KünstlerInnen während einer Lesung anzusprechen oder gar zu unterbrechen - obwohl gerade das richtig anarchistisch wäre! Diese unübersehbare Trennung bestätigt den Menschen nur noch einmal, dass sie im Leben nur Zuschauer sein sollen, dass ihre Selbstentfaltung nicht gewünscht ist. Dem entgegen werden die KünstlerInnen "da oben" zu Wichtig-Menschen stilisiert, zum Zerrbild des erfolgreichen Einzelkämpfers im kapitalistischen Betrieb.
Ohne Kapitalismus wäre das undenkbar: die Verwertungslogik, die Kultur zur Ware macht, drängt zu dieser Gleichförmigkeit, weil sich nichts besser verkaufen lässt als Wiederholungen - Experimente gefährden den Profit. Und gerade der vorhersehbare Ablauf solcher kulturellen Veranstaltungen reizt die Menschen: sie kommen, weil sie genau wissen, was passiert und sich deshalb auch nicht fürchten müssen in Frage gestellt zu werden. Wer will denn nach der Arbeit noch denken? Und eine Einsicht der Kommunikationsguerilla ist, dass es nicht ausreicht, den Inhalt zu vertauschen. Denn gerade die Form, durch die Botschaften vermittelt werden, bestimmt ihren Inhalt entscheidend: Fernsehen verhindert schon der immer manipulativen Form nach, dass herrschaftskritische Inhalte rüber kommen. Wenn wir dieses Formen unangetastet lassen, können wir keine libertären Inhalte vermitteln. Deshalb ist z.B. die Idee einer Kultur von unten alleine nicht ausreichend: Wenn in einer anarchistischen Lesung die Trennung von Bühne und Publikum, die Rollenlogiken AkteurIn | ZuschauerIn nicht angegriffen werden, wird Herrschaft produziert und damit die eigenen Inhalte preisgegeben. Und was machen wir jetzt?
Anarchistische Kultur ist für uns nur als Angriff auf Kultur selbst zu denken, als radikale Kritik. Es geht darum, den herrschaftsförmigen Charakter von Kultur anzugreifen, zu demaskieren, den Rahmen zu sprengen. Eine Beispiel dafür wäre es, mitten in der Lesung aufzustehen und den Raum zu verlassen, dabei weiter vorlesend. Oder sich plötzlich ins Publikum zu setzen. Dass ist ein klarer Angriff auf die ZuschauerInnen in ihrer konsumierenden Rolle. Es geht darum, all das zu hinterfragen, zu dekonstruieren, was uns als natürliche, unveränderbare Tatsachen präsentiert wird: Verwertungslogik, Krieg, Geschlechterrollen, Erziehung oder die Wegschliessung von sog. "Geisteskranken". Damit ist auch klar, dass es nicht darum gehen kann, sich zu etablieren - sondern gegen jede Etablierung anzugehen! Das kann langfristig nur jenseits vom Markt geschehen, weil die Verwertungslogik ständig zur Anpassung drängt und es daher unmöglich macht, bewährte Ausdrucksformen zu sprengen. Zu überlegen ist auch, ob sich anarchistische (Gegen-)Kultur mit kreativen Direkten Aktionen verbinden lässt. Und spätestens hier ist der Punkt erreicht, wo die Diskussion beginnen könnte.