Anarchismus in der Schweiz
Musterdemokratie
Trafik # 8, Winter 82/83
Die Schweiz sei ein Gräberfeld revolutionärer Eigenschaften, schrieb Michail Bakunin in seiner Beichte an Zar Nikolaus I. und er hat recht behalten. Durch ihre relativ freiheitliche Gesetzgebung im letzten Jahrhundert mitten in einem reaktionären Europa, wurde die Schweiz eine Insel für verfolgte, freiheitlich gesinnte Leute. Die Emigranten bildeten dann auch den hauptsächlichen Träger des Frühsozialismus in der Schweiz; ihr Gedankengut blieb jedoch der einheimischen Bevölkerung fremd und stieß auf Unverständnis. Als dann schließlich doch eine sozialdemokratische Partei gegründet wurde, schlug diese von Anfang an einen reformistischen Kurs ein. Der Glaube galt nie der Revolution, sondern dem demokratischen Staat, den man schon zu haben glaubte und in kleinen Schritten verbessern wollte. So konnte dieses Volk während anderthalb Jahrhunderten seine Sparkassenseele und sein Krämerherz ausbilden, ohne je wirklich dabei gestört worden zu sein. Der dem Durchschnittsschweizer eigene Größenwahnsinn, im freiesten Land der Welt zu leben, musste sich nie bewähren, soziale Unruhen gab es kaum und von Kriegen blieb die Schweiz verschont. Hinter dem Vorhang der Humanität, Friedfertigkeit, Neutralität, Sauberkeit und Sicherheit können weiterhin internationale Deckgeschäfte abgewickelt werden, kann weiterhin blutiges Fluchtgeld gehortet werden, ohne dass dies von innen oder außen ernstlich angefochten würde.
...bis 1899
Anarchismus in der Schweiz, das ist vor allem Geschichte, die Geschichte der "Föderation Jurassienne" zwischen 1868 und 1880. Nur in der Juraregion fand die Präsenz von Leuten wie Bakunin, Kropotkin, Reclus und Brousse ihren Niederschlag in einer eigenständigen Bewegung, deren bekanntester und unermüdlichster Kämpfer James Guillaume war. Bakunin war nicht der Führer der jurassischen Anarchisten, wie das oft behauptet wird, die Beeinflussung war gegenseitig (vor allem Kropotkin hat immer wieder betont, viel von der "Jurassienne" gelernt zu haben) und zwischen Bakunin und Guillaume, die immer gut befreundet waren, bestanden zum Teil erhebliche theoretische Divergenzen. Ausdruck der Eigenständigkeit der "Föderation Jurassienne" war vor allem die theoretische Erörterung des Antiparlamentismus und der Wahlabstinenz. Eine größere Krise in der Uhrenbranche (die Mitglieder der "Jurassienne" waren in überwiegender Mehrheit Uhrenarbeiter) und deren Industrialisierung (Fabrikarbeit), sowie die Emigration Guillaumes nach Paris waren das Ende der einzigen anarchistischen Bewegung in der Schweiz. In der Folge waren fast ausschließlich Ausländer anarchistisch tätig; der bekannteste war wohl Johann Most. Mehrere spätere Opfer der Klassenjustiz hielten sich längere Zeit in der Schweiz auf, so August Reinsdorf' - hingerichtet in Wien - und Michael Schwab, einer der 1887 in Chicago staatlich ermordeten Anarchisten. Früher oder später wurden fast ausnahmslos alle ausländischen Aktivisten von den Behörden aus der Schweiz ausgewiesen.
von 1900 bis 1933
Nicht ausgewiesen werden konnte Fritz Brupbacher, Schweizer Arzt, Psychologe und Revolutionär, der im ersten Drittel dieses Jahrhunderts nicht nur dem Bürgertum, sondern auch den sozialdemokratischen Spießern und "Kapoliken" - wie er die orthodoxen Kommunisten betitelte - das Leben schwer machte. Selbst langjähriges Mitglied der SP und dann der KP, lag ihm vor allem die Arbeiterbildung am Herzen, eine Bildung, die zu selbständigem Denken anregen sollte. Selbständig denkende Arbeiter lagen jedoch nicht im Interesse der kommunistischen Karrieristen und etablierten Plüschsofasozialisten und zusammen mit seiner ständig gegen die Parteidisziplin revoltierenden "anarchistischen Ader" (=Brupbachers Ausdruck) führte dieser ständige Konflikt mit den Parteibonzen zum Ausschluss aus beiden Parteien. Bezeichnenderweise wurde er kurz vor dem 1. Weltkrieg aus der SP und kurz vor der Machtergreifung der Faschisten in Deutschland aus der KP ausgeschlossen - beide Male hielt er den Optimismus der jeweiligen Partei für verfehlt und ging vehement dagegen an. Nicht nur war Brupbacher persönlich bekannt mit vielen Größen der russischen Revolution (er war mit Lydia Petrowna, einer russischen Revolutionärin verheiratet), Lenin und Trotzky lernte er in deren Züricher Zeit kennen, er war auch mit Kropotkin und Mühsam zusammen und mit James Guillaume und dem französischen Syndikalisten Pierre Monatte eng befreundet. Brupbacher schrieb viele Bücher und Broschüren, von denen einige neu aufgelegt worden sind.
von 1945 bis 1981
Nach Brupbacher findet sich kaum mehr etwas über Anarchismus in der Schweiz in den Archiven. 1975 erschien in der Wochenendbeilage des Züricher "Tages-Anzeigers" - ein längerer Artikel mit dem treffenden Titel: "Suche nach Anarchisten". Neben einem Universitätsprofessor, der einmal eine Broschüre "Anarchismus und Gegenwart" geschrieben hatte, traf der Autor - 'zufällig’ wie er schrieb - auf die "Gruppe James Guillaume". Dies war eine Gruppe von jüngeren Anarchisten in Zürich, die durch die 68er Unruhen aktiviert worden sind (die im übrigen in der Schweiz kaum richtig zum Ausbruch kamen), sich im Winter 1970 formierten und vorerst die "Anarchistischen Blätter" und später die "Libertären Blätter" herausgaben. Ab 1974 erschien in Basel die "Akratie", herausgegeben von Heiner Köchlin, eine Zeitschrift, die mir nicht nur äußerlich große Ähnlichkeit mit dem Organ der "Religiös-sozialen Vereinigung" zu haben scheint. Mittlerweile haben sowohl die "Libertären Blätter" als auch die "Akratie" ihr Erscheinen eingestellt. Im Schweizer Jura hat sich eine latent anarchistische Einstellung in weiten Kreisen der Bevölkerung bis heute erhalten. Im letzten Herbst hat die jurassische Gemeinde Vellerat für Aufsehen gesorgt, als sie sich - ohne jede rechtliche Grundlage - vom Kanton Bern unabhängig erklärte und die erste Autonome Gemeinde in der Schweiz ausrief. (Vellerat strebt den Anschluss an den vor einigen Jahren Neugegründeten Kanton Jura an.) Der Jura ist nach wie vor ein fruchtbarer Boden für anarchistische Gruppen, wovon eine in La Chaux - de - Fonds die Zeitschrift "Le Reveil Anarchiste" herausgibt. Eine andere Gruppe in der französischen Schweiz unterhält in Genf das "Internationale Zentrum zur Anarchismusforschung" (CIRA).
Im Kanton Tessin bilden die italienischsprachigen Anarchisten eine "Cooperativa Editorale Libertaria" und geben monatlich die "Azione Diretta" heraus. In der Deutschschweiz gibt es trotz anarchoider Tendenzen in einigen Bewegungen und Gruppierungen - z.B. eine Partei im Kanton Bern, ohne feste, Beitragszahlende Mitglieder, ohne Vorstand, mit regelmäßigen regionalen Treffen und gelegentlichen Vollversammlungen, die im letztjährigen Wahlkampf in einem Portrait in einer großen bürgerlichen Zeitung von sich sagte: "Wir sind eigentlich libertäre Sozialisten" und "Wir sind gegen einen starken Staat, weil wir mehr Anarchie im guten Sinne möchten"; die Partei stellt drei Parlamentarier im Kantonsparlament - trotz starker anarchoider Tendenzen in der "Bewegung der Unzufriedenen", die nun schon seit bald drei Jahren die schweizerischen Ruhe- und Ordnungsgemüter erregt, trotzdem die undogmatische Linke ziemlich stark, ist, keine Gruppe, die auf anarchistischem Selbstverständnis aufgebaut ist.
...und jetzt?
Der im letzten Herbst gestartete Versuch, in Zusammenarbeit mit den Leuten von Anares-Medien einen Vertrieb anarchistischer Literatur für die Deutschschweiz aufzubauen, muss bei Null anfangen. Deshalb- tritt der Vertrieb auch mit dem Anspruch der Koordination anarchistisch interessierter Leute auf, um so wenigstens eine minimale "anarchistische Infrastruktur" schaffen zu können.
Kropotkin schrieb einmal sinngemäß, dass, wenn in Bern ein Ordnungshüter einem Passanten ungerechtfertigt eine Ohrfeige versetzte, niemand dagegen einzutreten wage aus Ehrfurcht vor der Autorität der Uniform. Das zumindest hat sich in den letzten Jahren geändert.