Über das Iserlohner Friedensfest 1999 lief eine Schwarze Katze Radiosendung. Darin enthalten ist ein Interview mit dem am 30.09.04 verstorbenen Sauerländer Individualanarchisten Roland Wendering:
Roland Wendering, darf ich dich fragen, was du von der Macht hältst?
Macht ist ein ganz vertracktes Mittel. Macht ist eigentlich das Schädlichste, was es für den Menschen überhaupt gibt. Weil Macht eine Position ist, die man anstrebt, und wenn man sie dann erreicht hat, man nichts anderes mehr im Kopf hat als diese Macht zu verteidigen. Der Aufbau der parlamentarischen Demokratie hier als Beispiel genommen. Es wird niemand zufällig Landtags- oder Bundestagsabgeordneter, der nicht ganz massiv darauf hin gearbeitet hat, diese Position zu erreichen. Positiv unterstellt, im Glauben, dass sie oder er die einzige Person sind, die diesen Posten so auszufüllen imstande sind, wie es dieser Posten erfordert. Und auf diesen Weg gibt es natürlich immer wieder Konkurrenten, auch in der eigenen Partei, in anderen Parteien und dergleichen mehr. Und das ist die Konkurrenz, die nach Erreichen dieser Position ausgeschaltet werden muss. Diese Konkurrenz hat ja etwas mit militärischer Präventivmassnahme zu tun. Es ist in etwa vergleichbar, das man also nach dem Erreichen dieser Position immer wieder feststellt, dass es Schwachstellen gibt, wo man angreifbar ist. Diese Schwachstellen müssen immer weiter und immer weiter abgeschottet werden, damit niemand einem diesen Posten streitig machen kann. Und dann kommt diese Person, männlich oder weiblich, nicht mehr dazu Politik zu machen, die sie vor der Wahl so angekündigt hat. Weil dieses Macht-verteidigen-müssen sie davon abhält.
Nun sagen ja die Politiker, das wäre umgekehrt. Sie würden im Grunde die Bevölkerung unten an der Basis repräsentieren. Wie ist das nun? Wie empfindet das ein Bürger, der verwaltet und regiert wird?
Bezeichnend ist da der Ausspruch von Antje Volmer, die da sagt: "Wir müssen den Kopf frei haben. Wir dürfen uns mit dem gemeinen Volk überhaupt nicht identifizieren, weil wir dann unfähig sind, grössere Entscheidungen emotional frei treffen zu können. Das ist also bezeichnend, dass zeigt die Struktur als solches. Ich war seinerzeit mal als sachkundiger Bürger im Kreistag tätig. Ich habe dann, zum Beispiel beim Thema Strassenbau, feststellen müssen, dass über einen Radweg an einer Kreisstrasse hier lange Verhandlungen geführt wurden und "wichtige" Aussagen von CDU und SPD Leuten getätigt wurden zu dieser Notwendigkeit der Durchführung dieser Baumassnahme einen Radweg anzulegen. Ich war total verblüfft. Nachdem ich dann gefragt wurde, was ich denn als Grüner davon halte, wieso ich denn vehement dagegen war, diesen Radweg anzulegen. Weil es sich nämlich um einen Radweg handelte, der von Scheda nach Halingen ging, mitten durch den Wald. Da ist eine Strasse, die man mit zwei Schildern einfach für den Kraftfahrzeugverkehr sperren kann. Dann hat man ohne Massnahme einen Rad- bzw. Fussgängerweg. In diesem Augenblick stellte sich dann heraus, dass nicht einer und nicht eine in diesem Ausschuss von der CDU und der SPD, ich war seinerzeit der einzige Grüne, überhaupt wusste, wo diese Strasse war. Das ist bezeichnend, das innerhalb eines Kreises wie dem Märkischen Kreis bereits Entscheidungen gefällt werden von "wichtigen" Leuten, die überhaupt nicht wissen, worüber sie reden.
Je höher das geht, bis zum Beispiel in die Bundespolitik hinein, ist es so, dass der Schröder wahrscheinlich seine eigentliche Familie nicht mehr kennt, sonst wäre er nicht so oft geschieden, von daher noch unmöglicher, dass er mich kennt oder sonst jemand. Von daher hat er überhaupt keine Möglichkeit uns zu vertreten, so wie er es darstellt. Diese Situation ist einfach ausgeschlossen, schon durch Unkenntnis. Dass ist das Vorrangigste. Das nächste ist, dass der persönliche Kreis, mit dem er sich unterhält, ist auf minimalste Personenzahlen beschränkt. Der Zeitaufwand, den er dabei hat, durch die flexible Art der räumlichen Überwindung von Grossstrecken macht es ihm unmöglich, mit irgend jemanden an der Basis noch mehr als zwei Worte zu wechseln.
Was bedeutet Parlamentarismus für dich?
Also ich persönlich sehe aufgrund meiner jetzt 30jährigen politischen Tätigkeit, die ich nicht auf den Parlamentarismus beschränkt sehe, folgendes: Für mich bedeutet Parlamentarismus nicht Politik, sondern für mich bedeutet das tagtägliche Leben, der tägliche Kampf, das ist Politik. Das, was mit dem Parlamentarismus zu tun hat, ist eine Verwaltungsangelegenheit und eine Machtdokumentation, die eigentlich nur die Verhältnisse aus dem Mittelalter verschoben hat oder die Verhältnisse, wie wir sie in Iserlohn dokumentiert haben, über die Arbeiterrevolution um 1850 herum, die damals von Besitzenden dermassen gestaltet war, dass einer das Sagen hat und Hundert exakt das durchzuführen haben. In dieser Situation stehen wir heute wieder. Die Grosskonzerne schreiben vor, was zu tun und was zu lassen ist und da ist ihre Regierung, oder anders ausgedrückt: Alle Leute, die im Parlamentarismus mitmachen, müssen, wenn sie wirklich engagiert sind, sich darüber im Klaren sein, dass sie in diesem Amt nichts anderes tun, als das Volk zu befrieden, damit diese Leute, die die Macht haben, in Ruhe tun und lassen können, was sie wollen. Das sie in keinster Weise beeinträchtigt sind bei dieser Vorgehensweise.
Um das mal deutlich zumachen: Der Landfrass der Grossindustrie ist so immens inzwischen geworden, dass für die Bevölkerung kaum noch Fläche übrig bleibt. Die meisten Leute machen es sich gar nicht klar, dass wenn beispielsweise in Sümmern ein Industriegebiet gebaut wird, diese Fläche umzäunt wird und dann für alle anderen Menschen nicht mehr zugänglich ist. Diese Fläche ist endlich vorhanden, nicht endlos. Es ist für mich bereits ein Verbrechen auch nur einen halben Quadratzentimeter Land zu privatisieren. Weil eine Fläche, die nur ein einziges Mal ersatzlos vorhanden ist, nicht von irgendeiner Person oder von irgendeinem Betrieb für sich alleine in Anspruch genommen werden kann. Das ist Raub an der gesamten Weltbevölkerung. Damit die Leute dieses hinnehmen, das akzeptieren, dafür sind Politiker da. Damit bestimmte Gruppen, minimalste Gruppen, tun und lassen können, was sie wollen. Die Regierungsform spielt da keine Rolle.
In der Diktatur ist es so, dass man unmittelbare Repressalien erfährt. In unserem parlamentarischen System erfährt man mittelbare Repressalien. Es gibt bei uns beispielsweise die Möglichkeit Leute vom Arbeitsmarkt auszugrenzen. Dadurch werden sie in sogenannte bestimmte Sozialmassnahmen gedrängt. Bei dem Drängen in die Sozialmassnahme ist in diesem Monat ein neues Schreiben vom Sozialamt heraus gekommen, wo sämtliche Sozialhilfeempfänger vom Sozialamt aufgefordert werden, sich umgehend um einen sogenannten 630 Mark Job zu bemühen, weil viele Leute diesen Job hingeschmissen haben. Also Arbeitnehmer diesen job aufgekündigt haben, weil eben die Konditionen einfach nicht stimmen. Die Entlohnung für die geleistete Tätigkeit stimmt nicht. Der Reinerfolg der dabei rauskommt entspricht in keinster Weise dem, was man benötigen würde um seine Existenz fristen zu können. Statt das man nun staatlicherseits diesen Missstand aussschliesst oder dagegen angeht, erfolgt die Repression gegen Sozialhilfeempfänger. Die werden gezwungen, in diese Arbeitsmarktlücke hineinzupreschen. Sie werden dabei völlig entrechtet. Der Sozialhilfeempfänger hat auf dem Arbeitsmarkt keine Rechtsgrundlage mehr, sondern er muss zu allen Konditionen arbeiten, sonst wird ihm auch die Sozialhilfe gestirchen. Das ist etwas, das verstehe ich jetzt unter mittelbarer Repression. Der Chef braucht mich überhaupt nicht mehr selbst zu züchtigen, wie früher der Baron den Leibeigenen. Der Chef heute schmeisst mich raus, ich beziehe Arbeitslosenhilfe oder Sozialhilfe und werden dann von staatlicher Seite aus gezwungen, bei dem gleichen Chef statt für 12 Mark für 7 Mark Stundenlohn wieder anzufangen.
Ja, so ist es. Das kann jeder feststellen. Jeder Betroffene wird das so ohne weiteres unterstreichen. Das heisst die Politiker machen sich zu Sprechern derjenigen, die ihre Privilegien verteidigen. Im Vorgespräch haben wir darüber gesprochen, dass schon zu Anfang der Industrialisierung Meinungsumfragen stattfanden. Könntest Du das nochmal wiederholen?
Im Ausklang des 19. Jahrhunderts sind Erhebungen durchgeführt worden, mit Umfragen und dergleichen mehr. Heute würde man es als Informationsstudien bezeichen. Zahlenangaben mache ich nur, um den Sachverhalt festzumachen. Man hat festgestellt, dass man drei Viertel der Bevölkerung bis unter das Hungerniveau drücken kann, ohne dass diese Masse von Menschen, also 75% der gesamten Bevölkerung in einem Industriestaat, ohne dass diese Menschen sich dagegen verwahren und aufstehn. Dies ist dann möglich, wenn man den 75% klar macht, dass jeder Einzelne von ihnen die Möglichkeit hat, in die 24%-ige "Pufferschicht" einzustossen. Also mit zu den Besserstehenden, zu den Privilegierteren zu gehören. Diese 24% Pufferschicht sind die Leute, denen man ein besseres Einkommen zukommen lässt. Wenn ich das den Leuten klar gemacht habe, dann verstehen die auch, dass es eigentlich ihr eigenes Versagen nur bedeutet hat, dass sie zu diesen 75% nicht Besitzenden gehören. Und es ist ja tatsächlich so, dass es den Leuten so klar gemacht wird. Und diese 24%, dass ist diese Puffezone die in Wirklichkeit nur besteht, damit sich 1 oder 0,5% der Bevölkerung, also die Bevölkerungsgruppe, der Kreis, der wirklich die Macht darstellt, der im Grunde genommen alles besitzt - damit sich dieser Kreis so frei bewegen kann wie das möglich ist.
Ich mach das auch wieder am Beispiel fest: Wenn ein Herr Günther Einert, der täglich in der Presse steht, oder eine Frau Yzer, oder eine Frau Freitag, die können hier die Wermingser Strasse rauf und runter gehen, ohne dass sie jemand erkennt. Das sind Menschen, die angeblich die Bevölkerung repräsentieren. Die kennt überhaupt keiner. Man liest von denen in der Zeitung, aber sie sind persönlich völlig unbekannt. Wenn ich beispielsweise die Wermingser Strasse runtergehe, dann passierts mir Samstag, dass mich mindestens 150 bis 200 Leute grüssen, weil ich im regen Austausch, im regen Gespräch mit ihnen bin und weil ich immer vor Ort präsent bin. Ich habe Möglichkeiten, Bekanntschaften zu schliessen, mit Leuten zu sprechen. Das ist den Politikern völlig unbenommen.
Das bekräftigt jetzt nur das, was ich vorhin schon mal gesagt habe. Dass selbst diese Leute, die diesen Bezirk unmittelbar zu vertreten haben nicht nur keine Leute kennen, sondern auch umgekehrt, dass die Leute, die durch sie vertreten werden, die Politiker überhaupt nicht kennen. Man liest zwar in der Zeitung, dass die Frau MdB Freitag, oder die Frau Yzer, oder der Herr Einert, oder wer auch immer: Das die ganz wichtige wichtige Positionen ausfüllen. Die können die Wermingser Strasse rauf und runter gehen, ohne dass sie jemand wahrnimmt, weil sie als Person niemand kennt. Als Zeitungserscheinungsfrom, als Bilderscheinungsform, da sind sie natürlich bekannt. Aber sie sind völlig unbekannte und auch sich nicht öffnende Leute. Wenn die mal ein Gespräch mit dem Bürger führen, dann oben vom LKW aus runter mit dem Mikrofon. Unten steht dann auch ein Mikrofon, wo hundert Leute sich abwechseln dürfen, die ihre Fragen stellen dürfen.