Strategie für Anarchie?
Provozierende Statements und Vorschläge für eine notwendige Debatte.
Interim # 481, 29.07.99, Robin Wut, unterwegs
Der Grund dieses Textes: Ich habe es satt, immer wieder zu denken: "Unsere Ideen sind richtig - eine Welt von unten ist das, was ich will", aber dann auch immer wieder einzusehen: "Wir sind einfach ein Haufen Leute in Sturm-und-Drang-Phase oder mit viel Wut, aber ohne Strategie. Die andere Seite, von den Machtzentralen in Regierungen und Konzernen bis zu den akzeptanzschaffenden BeraterInnen in den NGOs, ist uns strategisch meilenweit überlegen." Ich will da raus und möchte, dass wir nicht nur die, wie ich finde, besseren Ideen für eine zukünftige Gesellschaft und konkrete Projekte jetzt haben, sondern auch die besseren Strategien.
Der Anlass dieses Textes: Nie zuvor
habe ich die strategische Unterlegenheit politischer Bewegung insgesamt
gegenüber der Normalität von Staat, Wirtschaft, Medien usw. so krass erlebt -
nie zuvor aber auch das Desaster selbstorganisierter
Politikstrategien gegenüber dem hierarchischen modernisierten Apparat (durch
viele jüngere, früher selbst oft radikaleren Zusammenhängen aktive
Leute) der NGOs und sonstiger zentraler Organisationen so
deutlichwahrgenommen. Die Vorbereitungen waren in beiden großen
Bündnissen von wenigen zentralen Figuren dominiert, die mit
Ausgrenzung,finanziellen Androhungen bis hin zur Drohung einer
wachsenden Konfrontation mit der Staatsmacht das Geschehen steuerten. In
den Demos sammelten sich selbstorganisierte Gruppen freiwillig (!)
inabgegrenzten Blöcken und reduzierten so ihre Außenwirkung auf
ein Minimum. Die Nische ist nicht nur da, sie wird auch noch nach
außendokumentiert!
Daher fordere ich eine selbstkritische Debatte.
Hinweis: Den Begriff "autonom" benutze ich im Sinne von selbstorganisiert-unabhängig, was nicht unbedingt
gleichbedeutend ist mit dem Selbstverständnis "der Autonomen", die oft ihre Autonomie nur in äußerlichen Verhaltensweisen (Kleidung, Aktionsformen) finden,aber intern nicht nur Hierarchien aufweisen und damit
von Einzelpersonen abhängen, sondern auch mit ihren Strukturen und Ressourcen von anderen abhängen (z.B.
finanziell).
Im ersten Teil möchte ich einige provozierende Kritiken an der strategischen Schwäche autonomer Bewegung formulieren, im zweiten Teil dann einige mögliche Perspektiven benennen. Dabei soll der
Text nicht mehr sein als ein möglicher von
verschiedenen Anknüpfungspunkten für die Debatte, in jedem Fall aber soll
klar sein: So weitermachen wie jetzt...heißt ungefähr soviel wie
nicht weitermachen!
Provokationen
1. Nischenbildung: Wir fehlen überall dort, wo es wichtig
ist!
Wo sich selbstorganisierte Gruppen an Aktionen (z.B.
vonBündnissen) beteiligten, überlassen sie meist den "anderen"
die Vorbereitungsarbeit. Damit nehmen sie nur wenig Einfluss auf
Inhalte und vor allem die Form einer Aktion. Das hat Wirkung:
SolcheOrganisationen, die ganz gezielt eine Dominanz
aufbauen,hierarchische Strukturen und/oder Staatsnähe (zwecks
Finanzierung u. ä.) wollen, können uneingeschränkt schalten und walten. Die
einzige Ausnahme entsteht dann, wenn autonome Zusammenhänge spontan,
seltener auch als geplantes Vorgehen, während einer Aktion überraschend
mit eigenen Aktionen beginnen und die zentralen Organisationen
damit übergehen.
Ähnlich fatal ist die Neigung, sich mit
kritischen Positionen und Strategien aus politischen Debatten herauszuhalten.
Mensch ist gerne unter sich und sucht nicht die offene Konfrontation. So
laufen z.B. Parlamentssitzungen, Parteitage,
Pro-Expo-Veranstaltungen, Vortragsreihen zur Nachhaltigkeit oder neuen
sozialen(Demontage)Konzepten meist ohne Gegenaktionen oder
Beteiligungemanzipatorischer Politikideen. Dieser Boykott stärkt die
andere Seite, weil sie in Ruhe ihre Politik machen und die
Köpfe beeinflussen kann. Durch eigene Veranstaltungen im eigenen Saft
allein stellen wir hierzu kein Gegengewicht dar.
Autonome Politik hat nur eine geringe Wirkung, weil sie auf Zufallstreffen
baut und sich nicht in strategische und organisatorische Debatten einmischt.
Beispiel Köln: Viele selbstorganisierte Gruppen und
Netzwerke brachten sich in das größe bürgerliche Bündniss Köln 99 ein
- offenbar in der Erwartung, dass Größe (in Form von
Mitgliedszahlen?) gleichbedeutend mit Qualität und politischer Wirkung sind.
Sie nahmenweitgehend widerstandslos die politische Abflachung z.B. des
Aufrufs und die Anbiederung an die Stadt Köln oder die Polizei hin,
obwohl diese mit den typischen, üblen Methoden der NGOs durchgesetzt
wurden(Androhung von Geldentzug usw. Nicht viel besser sah es
im linksradikalen Bündnis aus, wo ebenfalls wenige Gruppen einen
klaren Dominanzanspruch hatten und diesen nach allen Regeln der
Kunst(Ausgrenzung, Nichtinformation anderer Gruppen usw.)
durchsetzten.
2. Desorganisation: Wer immer zwei Stunden zu
spät kommt, kann keinen Einfluss nehmen.
Der ohnehin
vorhandene Unwille zu einer prägenden Rolle innerhalb politischer Bewegung
wird in der Wirkung noch gesteigert durch die Art, wie dann in Ausnahmen doch
an zentralen Prozessen teilgenommen wird. Ständiges Zu-Spät-Kommen, keinerlei
Überblick über Tagesordnungen, Hintergrundinformationen usw.
machen selbstorganisierte Gruppen oft zu unorganisierten Einzelpersonen,
die in Besprechungen nur wenig einbringen können.
Folge: Zentrale Organisationseinheiten teilen die
durch Unorganisation willfähigen autonomen Gruppen nach ihren
Vorstellungen oft einfach ein.
Beispiel Köln:
Selbstorganisierte Gruppen waren in den bei den bundesweiten Bündnissen nur
Beiwerk. Die zentralen Entscheidungen fieln in anderen Runden, wo die
zentralen Organisationen (Ökoli & Co.im linksradikalen Bündnis, WEED,
Euromarsch & Co. in Köln 99) allein schalten und walten konnten. Aus
selbstorganisierten Gruppen gab es kaum oder gar keine Gegenpositionen oder
gar organisierte Kritik.
3. Ein-Punkt-Bewegungen bilden
keine Gegenmacht von unten.
Einfache Feindbilder
mobilisieren, für alles andere fehlt der Wille zur politischen und
strategischen Auseinandersetzung. Als Schlüsselreiz funktionieren vor allem
glatzköpfige Faschohorden(während eine Auseinandersetzung mit dem
faschistoiden Kern der Gesellschaft selten ist) oder gutbewachte
Castorbehälter, zum Teil überhaupt die martialisch ausgerüstete "Bullerei".
Aktionen gegen solche Symbole oder offen sichtbare Extreme sind wichtig. Aber
sie sind auch einfach und gefährden den Kern dieser Gesellschaft
nicht. Darin dürfte einer der Gründe liegen, warum der Staat bis
auf Übergriffe während der Aktionen autonome Gruppen nicht nur
weitgehend in Frieden lässt, sondern ihnen sogar in Jugendzentren oder
Infoläden die eigene Infrastruktur zur Verfügung stellt. Zudem schafft er
z.B. mit der unterstützenden Jugendarbeit für Faschos das Konfliktfeld
und die Beschäftigung für autonome Gruppen selbst und kann beruhigt
sein, nicht selbst das Ziel der Attacken zu werden. Der
Kern gesellschaftlicher Strukturen bleibt unberührt - und zwar sowohl
real(z.B. die Machtzentralen in der Politik wie in der Wirtschaft)
wie auch von den Symbolen her (wenig oder keine politische Aktion
gegen die sichtbaren Zeichen der Herrschaft wie Militär,
Knäste,Wirtschaftsmessen, Wahlen usw.)
4.
Fahnen und "Vereine" sind keine Gesellschaft von unten
Kommt es zu Aktionen, so fehlt oft der Inhalt.
Die eigene Ideologie, so sie besteht, wird in Kleidung sowie
oftmals nichtssagenden, die eigenen Zusammenhänge bewerbenden Fahnen
und Transparenten zum Ausdruck gebracht. Kaum eine Demo oder Aktion findet
heute noch als vielfältiges Ereignis mit klaren politischen Aussagen statt -
ob es nun eine gemeinsame Aussage ist oder verschiedene nebeneinander, spielt
bei dieser Betrachtung keine Rolle, denn meist fehlen sie ganz. Innerhalb
selbstorganisierter Gruppen fehlt der Wille, sich im Zusammenhang mit
Aktionen intensiv inhaltlich auseinanderzusetzen (positive
Ausnahme: Veranstaltungsreihen z.B. in Infoläden und JuZes). Das hat
zwei Folgen: Zum einen wird dadurch gefördert, dass in der
Öffentlichkeitnur die Aktionsform (sei es nun als Fest oder als
Randale) rüberkommt, zum anderen wirkt sich die fehlende politische Tiefe
im Werdegang der Menschen aus, die nach meist nur wenigen Jahren Mitarbeit
in politischen Gruppen ins Privatleben abtauchen und dann eine beachtliche
politische Inhalts- und Prinzipienlosigkeit zeigen. Offenbar hatten sie diese
nie, sondern die politische Arbeit aus einer reinen (wichtigen!)
Unzufriedenheit zusammen mit einem Gruppengefühl (autonome Gruppen als
"Nest"?) durchgeführt.
Beispiel Köln:
Mobilisiert wurde kaum nach Inhalten, sondern nach Gruppenzugehörigkeit. Auf den Demos waren
Blöcke mit ihren teiluniformen Kleidungen und Fahnen zu sehen, aber sehr
selten Inhalte. Auch im Nachinein wurde von verschiedener Seite die
Größe der Gesamtdemo oder des eigenen Blocks, die Tatsache
eines Staatfindens (unfassbar was inzwischen schon alles ein Erfolg
ist!) oder ähnliches abgefeiert - kaum dagegen erwähnt, dass die
Aktionen kaum wahrgenommen oder sie acuh kaum inhaltliche Aussagen
hatten.
5. Anarchie und autonome Aktionen sind meist
nicht mehr als der Bruch zwischen Jugend und
Etablierung.
Für die meisten Menschen endet der
radikalpolitische Abschnitt abrupt, wie er begonnen hat. Politik hat wenig
mit tatsächlichen Veränderungswillen zu tun, meist setzen sich
selbstorganisierte Gruppen genauso wenig wie etablierte Organisationen mit
alternativen Entwürfen für eine Gesellschaft von unten, die eigene
Gruppenstruktur oder auch das eigene Leben
auseinander.
Folge: Eine klare politische Kritik fehlt oder
wird nicht öffentlich gennant (siehe Punkt 3), wodurch der politischen
Arbeit eine wichtige Wirkung genommen wird, innerhalb der Gruppe
spiegeln sich meist die klassischen Dominanzstrukturen der
"normalen" Gesellschaft wieder: MacherInnen und
AbhängerInnen/MitläuferInnen, Männer und Frauen, Ältere in der Dominanz zu
Jüngeren usw. Am schwerwiegendsten macht sich der Mangel im privaten Leben
bemerkbar. Meist führen Menschen aus autonomen Zusammenhängen genauso ihr
Leben auf der Grundlage der Zerstörung und Ausbeutung an anderen Orten
wie die FunktionärInnen etablierter Organisationen - zumindest tritt
das mit zunehmendem Alter verstärkt sich das, bis der Lebensweg ganz
in der bürgerlichen Normalität
endet.
Perspektiven
1. Vielfältige, selbstorganisierte Aktionskonzepte durch- und
umsetzen
Köln war Scheisse - jedenfalls im Großen und Ganzen. Das Wenige,
was davon abwich, waren selbstorganisierte Einzelaktionen
(Parteibürobesetzung oder Besetzung eines autonomen Zentrums) und
bestätigten zum einen eher die Regel, zeigten aber, dass solche
Aktionenskonzepte viel eher öffentlich wahrgenommen und diskutiert
werden als die großen, zentralistisch organisierten Abläufe. Während
die 3o.ooo-Leute-Demo kaum und die linksradikale Demo bundesweit kaum
in den Medien erschienen (die politischen Aussagen schon überhaupt
nicht - was teilweise auch besser so war angesichts von Appellen,
mehr Arbeitsplätze zu schaffen z.B. beim Auftakt am 29.5.), konnten
die kleineren Aktionen am Rande immerhin eine gewisse Aufmerksamkeit
erringen.
Diese Logik ist auch aus anderen zusammenhängen bekannt. Als
Beispiel führe ich die Anti-Atom-Bewegung an. Das beste und
wertvollste, was dort entwickelt und dann breit akzeptiert wurde, war
das Konzept einer Aktionsvielfalt ("Streckenkonzept"), nach dem
verschiedene Gruppen die ihnen liegenden Aktionsformen unabhängig
voneinander umsetzen konnten. Nioemand plant für alle mit, niemand
schwingt sich auf, Führungselite für die bewegung oder eine Aktion zu
sein. Genau das hat die Stärke der Anti-Castor-Aktionen ausgemacht.
Die Kölner Aktionen waren das genaue Gegenteil: Peinlich genau wurde
darauf geachtet, dass alles zentral in der Hand von jeweiligen
Organisationsleitungen lag. Bei den Anti-Castor-Aktionen gingen
vorher genaue Landkarten und Hinweise über Telefonnummern,
Anfahrtsmöglichkeiten von allen Seiten und zu allen möglichen Orten
rum. Aber in Köln - nichts dergleichen. Zentralistische
Organisationen. Die Demo-TeilnehmerInnen waren nur die Masse, die für
den eigenen Medienerfolg (der dann auch noch ausblieb...) oder die
zentral ausgewählten Redebeiträge nötig waren.
Dieses Konzept der dezentralen organisierten, aber dennoch
vernetzten Aktionen muss von uns (von wem sonst?) im politischen Raum
durchgesetzt werden - wir müssen auch in der Lasge sein, solche
Aktionsformen gegen die zerntralistisch agierenden Verbände u.a. zu
verwirklicher oder auch ohne sie.
2. Autonome Strukturen aufbauen
Aktions- und Kommunikationsstrukturen für jede Aktion nei
aufzubauen, wäre anstrengend und dumm. Daher ist es sinnvoll,
autonome, d.h. selbstorganisierte und unabhängige Struktur zu
schaffen, die neben den jeweils zu Aktionen aufgebauten Arbeits- und
Vernetzungsstrukturen dauerhaft nutzbar sind.
3. Orte, Plätze, Zentren
Politische Freiräume braucht das Land! Infoläden,
Projektwerkstätten, Wagenplätze, Kommunen usw. sind wichtig - wenn
sie sich denn als politische Plattform begreifen und nicht nur als
Rückzugsidylle, Fetenraum und/oder als Ort maximaler Anpassung an den
Staat oder seine finanziellen Förderstrukturen. Katastrophal: Die
meisten autonomen Zentren gehören dem Staat oder der Stadt. Dieser
Zustand spiegelt wieder, wie weit entwickelt das strategische
Potential autonomer politischer Bewegung ist. Wo Wagenplätze oder
Zentren in Gefahr sind, wird nach Mami/Papi Staat gerufen, etwas
Neues zu geben. Peinlich! Wir müssen stattdessen eigene, unabhängige
Plätze schaffen - durch (kollektives) Eigentum oder durch politische
Besetzung.
Wo wir aber solche Pläne haben, müssen sie auch Aktionsplattform
sein für die politische Arbeit. Rein private Häuser oder Plätze sind
privat und damit nicht-politisch - egal ob sie von BänkerInnen oder
Anarcha/os bewohnt werden! Das Private ist wichtig, aber es ist nicht
politisch!
Es muss unser Anliegen sein, an unabhängigen Orten
Arbeitsmöglichkeiten für politische Gruppen, selbstorganisierte
Bildungs- und Öffentlichkeitsarbeit usw. zu schaffen.
Medienwerkstätten, Bibliotheken und Archive, technische
Infrastruktur, Werkstätten und mehr in jedem Ort!!!
Durch geschickte Formen kollektiver Verfügungsgewalt über die
politischen Räume müssen diese auf Dauer vor Privatisierung und
Kommerzialisierung geschützt sein - also im Zweifelsfall müssen wir
sie auch vor uns selbst schützen, da wir davon ausgehen müssen, dass
jedeR von uns zu der Mehrheit politisch Aktiver gehört, die nach
einiger Zeit politischer Arbeit etablieren und dann das mit
politischen Zielen Geschaffene für die eigene Lebendsidylle bzw.
-absicherung nutzen wollen.
b. Medien und Veranstaltungen
Der inzwischen fast abgeschlossene Niedergang selbstorganisierter
Medien nimmt uns eine wichtige Möglichkeit der Einflussnahme in das
gesellschaftliche Geschehen. Als Alternativen bleiben einem nur noch
die Anbiederung in die bürgerliche Presse (deren Ausrichtung der
Krieg gegen Jugoslawien nicht veränderte, wohl aber mal wieder
besonders deutlich machte!) oder der Rückzug in eine Nische ohne
Wahrnehmung von außen.
Dabei ist unsere Gesellschaft eine Mediengesellschaft. Viele
grundlegende Ideen lassen sich nicht auf Spucki oder Plakat
unterbringen. Daher müssen wir wieder eigene Zeitungen, Radioprojekte
(legal oder illegal ist scheißegal, wichtig ist: selbstorganisiert
und politisch) und auch Bildungsarbeit organisieren - von
Einzelveranstaltungen bis zu Ideen der Volkshochschulen von unten
u.ä.
Auch bei Aktionen können zeitlich befristete Zeitungen oder ein
Piratensender bzw. ein Kanal im vorhandenen Radio sinnvoll sein. Wir
haben gute Ideen - aber niemand bekommt es mit!
c. Betriebe, Verlage usw.
Was für Medien gilt, kann auch für Betriebe im allgemeinen gelten
- von Verlagen über Kneipen bis zum Kino. Betriebe sollten als
politische Plattform begriffen werden. In vielen Kommunen oder
ähnlichen Projekten dienten Betriebe vor allem der finanziellen
Absicherung der AkteurInnen. Nur wenige Jahre später waren sie eine
Ansammlung kommerzieller Einheiten zum allein privaten Nutzen. Teil
einer politischen Bewegung aber sind Betriebe nur dort, wo sie ein
politisches Ziel (Bildungs- oder Öffentlichkeitsarbeit, Bau von
Aktionmaterial, Renovierung von Häusern oder Wägen, Kommunikation
usw.) verfolgen.
d. Kommunikation und Vernetzung
Welche Vernetzung existiert? Krampfhaft werden einige, bundesweit
weniger bdeutsame Zeitungen erwähnt (Interim, radikal usw.), wenn die
Frage darauf kommt. Aber es gibt nur wenige Versuche, das breiter
anzulegen, viele zu erreichen. Im Antifa-Bereich gebt es einige
Vernetzungsblätter, im Umweltbereich seit kurzem die "Ö-Punkte", aber
in vielen Bereichen nichts. Übergreifende Telefonketten: Fehlanzeige.
Vernetzung zwischen Wagenplätzen, Infoläden und/oder Häusern:
Schwach. Gegenseitige Hilfe oder Aufbau gemeinsamer Strukturen: Kaum.
Dabei ist Informationsaustausch eine wichtige Grundlage strategischer
Arbeit. Ihn zu schaffen, ist ein wichtiges Ziel. Dabei wird es auch
hier nach dem prinzip der selbstorganisierten Vielfalt verschiedene
Wege geben. Im Optimalfall ist das Geflecht von zeitungen,
Email-Vernetzungen, Telefonketten, Rundbriefen usw. aber
durchschaubar und jede Gruppe und Einzelperson kann sich dort
einbringen, wo es ihr am sinnvollsten erscheint. Möglichkeiten der
Koordination (auch hier muss es die Vielfalt der Selbstorganisation
bringen): Adressbüchlein, Kalenderprojekt(e) u.ä. Einiges gibt es
schon und könnte weiterentwickelt werden - aber bisland sind fast
alles Nischenprodukte, jede Szene bedient sich selbst.
3. Lebensperspektiven für die Einzelnen entwickeln
Autonome Wohnprojekte sind meist nichts anderes als unverbindliche
WGs, die ökonomisch von der Substanz der Orte, vom Überfluss der
Gesellschaft oder, am häufigsten, aus ganz normalen Quellen gespeist
werden: Eltern, BaFöG, Staatszuschüsse, Maloche oder Sozialamt.
Solange aber für die einzelnen Menschen keine Perspektive besteht,
das eigene Leben selbst zu organisieren, bleiben die Zwänge des
Alltags ein wichtiger Grund für das ständige Wegetablieren der
ehemals politisch Aktiven. Stattdessen müssen autonome Wohn- und
Lebensräume entstehen , die die einzelnen Menschen herauslösen aus
den Zwängen der Normalität und ihnen damit erst die Freiheit geben,
Leben und politisches Engagement sowie auch das Ausprobieren
alternativer u.a. herrschaftsfreier Zusammenhänge zu verbinden. Die
bisherigen Versuche (Kommunen, Ökodörfer, Öko-WGs, Wagenplätze usw.)
konnten den Prozess nicht aufhalten, da mit zunehmendem Alter von
Personen und Gruppen der Hang zu Absicherung, mehr Luxus und
Einnischung in die Normalität nicht durch ein positives gegenmodekk
aufgehoben wurde. Hier gilt es, eine strategische Debatte zu führen.
Alternative Lebensprojekte müssen Willen und Fähigkeit der Einzelnen
zur Auseinandersetzung mit der Gesellschaft erhöhen und selbst
Plattform dazu sein. Dumpfe Rückzugsprojekte, legitimiert über
"unsere Existenz ist politisch", "echte Veränderung kommt von innen"
oder den Glauben an spirituelle bis esoterische Kräfte, sind
entpolitisierend und befrieden kritisches Potential. Was wir brauchen
sind Projekte, die Gegenmodelle darstellen, sich öffentlich zeigen
und reiben an der Realität, sich selbst als politische Speerspitze
einer Veränderung und Teil politischer Bewegung begreifen - und
trotzdem nicht eine unverbindliche WG ohne langfristige Perspektive
für die Einzelnen sind, wo es sich für die paar Jahre der
Unzufiredenheitsphase vor der Etablierung aushalten lässt, aber mehr
auch nicht.
4. In politische Bewegung einmischen
Aktionen, Zeitschriften, Veranstaltungen und mehr sind Teil der
politischen Arbeit. Unsere Positionen haben fast überall ein
Schattendasein. Nur selten kümmern sich Menschen auch schon in der
Vorbereitung darum, dass Aktionen, Zeitschriften, Veranstaltungen
u.ä. basisdemokratisch bzw. nach Autonomiestrategien organisiert
werden (positives Beispiel: bemühungen einzelner (!) Personen aus
verschiedenen selbstorganisierten Gruppen im Jugendumweltbereich,
Kongresse radikalpolitisch und selbstorganisiert zu gestalten, z.B.
JUMJA; schlechtes Beispiel: Köln). Autonome Strategien und Inhalte
sind es wert, prägend zu sein für politische Bewegung und sich als
durchsetzungsfähig gegenüber reformistischen bis
kapitalismuskompatiblen Positionen, vor allem aber gegenüber
herkömmlichen Organisationsmodellen in Bündnissen zu erweisen. Dafür
aber müssen selbstorganisiete Gruppen sich in die politischen
Zusammenhänge, Medien, Netzwerke und Aktionen einmischen, um ihre
Vorstellungen politischer Organisation dort einzubringe.
5. In gesellschaftliche Prozesse einmischen
Emanzipatorische Politik steht heute sehr stark am Rande der
Gesellschaft, kaum noch wahrnehmbar. Schuld daran ist sie auch
selbst, denn ihre VertreterInnen (d.g. Menschen, die eine solche
Politik wollen) ziehen sich seit Jahren immer mehr aus der
öffentlichen Debatte zurück und schmoren im eigenen Saft. Der
(richtige) Wille zur inhaltlichen Konsequenz wird nicht so umgesetzt,
dass emanzipatorische Ziele immer klar und unmissverständlich
formuliert werden, sondern dass vor allem darauf geachtet wird, dass
der Rahmen und die VeranstalterInnen z.B. von Diskussionen die
politisch richtige Meinung haben ("pc" sind). Diese Strategie hat zur
Folge, dass emanzipatorische Ideen zur Zeit (fast) nur innerhalb
einer kleinen Szene überzeugter Menschen diskutiert oder verbreitet
werden. In den bedeutenden größeren Teil etablierter Bewegeungen und
Organisationen, erst recht in der Normalität der Gesellschaft, auch
in ihren Bildungs- und Diskussionskreisen (Schulen, Hochschulen,
Volkshochschulen, Verbänden und Vereinen, Bildungszentren, Medien
usw.) gibt es die Themen Herrschaft, Ausbeutung usw. nicht. Es wirkt
fast, also hätten Menschen mit emanzipatorischen Ideen Angst, sich in
der Realität zu stellen und für ihre Ideen zu kämpfen. Oder fürchten
sie um ihre sozialen Beziehungen in der "Normalität", in der die
meisten von ihnen auch existieren wollen (Jobs, Hobbies,
NachbarInnenschaft usw.)?
Emanzipatorische Politik muss aus der Isolation befreit werden.
Dafür ist nicht notwendig, dass Inhalte oder Positionen aufgegeben
werden. Es ist keine Anbiederung, auf einer Veranstaltung, die nicht
selbst emanzipatorische Ziele hat, aber die Formulierung solcher
zulässt, für die eigenen Positionen zu kämpfen. Politischer Verrat
geschieht erst dann, wenn Verhaltensweisen oder inhaltliche
Positionen zwecks besserer Akzeptanz oder Anbiederung verändert
werden. Notwendig ist aber, radikale, emanzipatorische Politikinhalte
und Aktionsformen an vielen Orten dieser Gesellschaft offensiv
einzubringen - und sich auch offen zu zeigen als Gruppe, Projekte,
Kommune o.ä., die bewusst und sichtbar für eine Welt von unten
eintritt. Kein Stammtisch, kein Podium, keine Vorlesung, kein
Seminar, kein Arbeitsplatz, keine Schulstunde, keine WG oder Familie
und kein anderer Ort ist zu schade für eine Debatte für eine Welt von
unten. Wer anders agiert, isoliert sich im eigenen Saft und hat auch
ein falsches Verständnis einer Welt von unten - denn "unten" sind
nicht die selbstisolierten linken Kader.
Die Menschen, die emanzipatorische Politik vertreten wollen,
sollen sich in Veranstaltungen, Kongresse, Diskussionen und auf den
Podien einmischen, wo über zukünftige Strategien geredet wird. Diese
Plattformen sind gute Gelegenheiten, die Dominanz der
kapitalismuskompatiblen Politikkonzepte der Marken Humanität,
Nachhaltigkeit, Agenda oder Bündnis für Arbeit zu brechen. Nicht die
anderen Personen auf den Podien oder die VeranstalterInnen sind
unsere Zielgruppe (Kritik an ihnen kann daher auch kein Grund der
Verweigerung von Debatten sein!), sondern die Menschen, die zu
solchen Veranstaltungen kommen. Sie der "anderen Seite" zu
überlassen, ist schlicht dumm.
6. Modelle und Kristallisationspunkte schaffen
Kaum eine politische Idee wird ohne Symbolik durchsetzungsfähig
sein. Symbole können der Aufhänger für die Kritik am Bestehenden oder
dem Entwurf neuer Ideen, Konzepte oder Visionen dienen - im
Einzelfall sogar für beides. Sie haben vielfache Bedeutung für die
politische Arbeit:
*als Mobilisierungspunkt, an dem die verschiedenen Gruppen, die
sonst "nur" auf ein Thema spezialisiert sind, zusammen agieren und so
Kräfte bei den umfassenden Zielen bündeln.
*als öffentlich wahrnehmbares Modell für Alternativen oder Symbol
für die aktuelle Normalität, d.h. die Herrschaftsformen,
Ausbeutungsstrukturen u.ä.
*Bündelung verschiedener politischer Stoßrichtungen, um gemeinsame
Ziele zu formulieren.
Beispiele für solche Modelle und Kristallisationspunkte können die
besonderen Symbole von Herrschaft und Ausbeutung sein (Knäste,
SpitzenpolitikerInnen-Gipfel, thematisch passende Veranstaltungen,
Wahlen, Banken, großtechnische Baustellen oder Objekte, Expo 2ooo).
Ebenso können es positive Modelle sein, also Visionen, Versuche
alternativer Projekte mit politischen Zielen und als ein Kern
politischer Bewegung usw. Solche gemeinsamen Aktionen ersetzen nicht
die weiter notwendigen Ein-Punkt-/Ein-Themen-Gruppen und
-initiativen, sondern bieten die Chance zum gemeinsamen Agieren -
beides zusammen ergibt die sinnvolle Mischung.
7. Die Debatte anzetteln
Eine Debatte um Stategien muss selbstkritisch sein, d.h.
schonungslos aus eigenen Erfolgen und Fehlern lernen. Sie kann und
sollte auf die Erfahrungen aus den vielen Jahren selbstorganisierter
politischer Arbeit schöpfen, aber nicht daran kleben. Die autonome
Politik hat zur Zeit nicht nur gegenüber der herrschenden Politik und
Normalität das Nachsehen, sondern auch gegenüber der Art
nichtautonomer politischer Arbeit, wie sie von den etablierten, meist
staats- und oft wirtschaftsnahen Verbänden (neudeutsch: NGO)
betrieben wird. Autonmie bzw. Selbstorganisation ist aber nicht das
reine Wegbleiben von Strategie - genausowenig wie Anarchie nur das
Wegfallen des Staates und das Heraufkommen reiner Unorganisiertheit
bedeutet. Nein: Eine politische Autonomie besteht sogar erst dann,
wenn sie sich organisiert, denn "allein machen sie dich ein"!
Politischer Widerstand braucht eine wirkliche Qualität, die
wehrhaft ist gegen Repression, Abhängigkeiten und Einverleibung, die
Alternativen bietet zu den Wegen der Normalität (auch der
normal-etablierten politischen Arbeit z.B. der NGOs). Autonome
Politik ist nicht nur ein Inhalt, sondern auch eine strategie. Und
sie hat nur dann eine Existenzberechtigung, wenn sie die bessere ist,
als der wirksamere Weg, diese Von-oben-Gesellschaft in Richtung einer
Welt von unten, einem emanzipatorischen Ziel zu verändern. Die
Existenz autonomer Gruppen als Selbstzweck kann und darf es nicht
sein. Notwendig ist die Entwicklung einer Strategie, die den Aufbau
von Infrastruktur, Kommunikationsformen und Aktionsfähigkeit
beinhalten, eigene Wege in die Öffentlichkeit, Modelle und
Kristallisationspunkte, ökonomische Absicherungen, Solidarität und
Perspektiven für die einzelnen AkteurInnen.
Wie sagen doch z.B. viele Antifas: Antifa heißt Angriff - und doch
sind die meisten Tag für Tag mit der eigenen Isolation beschäftigt,
überlassen den Organisationen mit faschistoiden Grundtendenzen (z.B.
der "bürgerlichen Mitte") das Geschehen und beschränken vieles, was
sie tun, nur auf ihren Bereich.
Aber das ist nur ein Beispiel. Wir müssen insgesamt dafür sorgen,
dass diese Welt im allgemeinen und die politische Bewegung im
speziellen nicht mehr länger in Ruhe gelassen wird von den
emanzipatorischen Ideen. Die Zeit muss vorbei sein, in der etablierte
Organisationsspitzen von NGOs und anderen, oft mit Parteibüchern in
der Tasche, sich als Bewegung ausgegeben haben und Schröder, Daimler
& Co. als ihre GesprächspartnerInnen über die Zukunft der Welt
ansahen. Die politische Bewegung ist der erste Punkt, an dem die
Gesellschafgt von unten Wirklichkeit werden muss - von ihren (Macht-)
Strukturen her genauso wir von ihren inhaltlichen Positionen und
Strategien, gegen die Welt von oben anzutreten statt deren
Begleitmusik zu sein.
Robin Wut, unterwegs