Redebeitrag der Gruppe Anarchistisches Forum Wiesbaden auf der Auftaktveranstaltung zur Demo "Nie wieder Deutschland" am 12. Mai 1990 in Frankfurt/Main

Deutschland? Wir empfehlen Anarchie...

(aus: Antiquariat Schwarzer Stern # 25)

Das Volk der DDR hat seine Stimme abgegeben. In dem kurzem Winter der Eigenständigkeit, in dem es seine Stimme erhob und nicht nur die Mächtigen in seinem Namen sprechen liess, machte es die Erfahrung, dass die, die laut werden, auch gehört, selber etwas bewegen können, nich nur wie Pappfiguren nach der Pfeife anderer tanzen müssen.

Das war zuviel! Das Volk hat beschlossen, diesen unerträglichen Zustand zu beenden und sich kollektiv wieder in das Stadium frühkindlicher Unmündigkeit zu begeben. Mit dem sicheren Gespür für die Macht hat es genau die Gruppierung die Verantwortung für sein Schicksal übertragen, die ihm, dem Volk, keine Möglichkeit eigenen Denkens und Handelns zugesteht. Die Funktion, die die SED als autoritär-bürokratische Partei 40 Jahre lang erfüllte, übernimmt jetzt CDU und DSU. Eigenständigkeit des Denkens war noch nie eine deutsche Tugend, Kadavergehorsam und Speichelleckerei schon eher. So ist es nicht verwunderlich, dass die sogenannte "friedliche Revolution" in der DDR, entgegen allen Hoffnungen, letztendlich nichts anderes war, als die Ersetzung einer Machtclique, die von ihrem Volk, vornehmlich Gehorsam, Buckelei und geistigen Stumpfsinn erwartete, durch eine andere, die genau die gleichen deutschen Tugenden bei ihren Untertanen schätzt.

Und wie die "guten" Deutschen stets verklärten Blickes nach oben, zu ihren Herren mit dem Geldsack blicken, so sehr treten sie gewöhnlich nach unten, nach all denen, die in der Hackordnung unterlegen sind oder nicht die Mentalität eines deutschen Schäferhundes besitzen.

Deutschland, einig Vaterland - das bedeutet kleingeistiger Nationalismus, Rassismus in langer Tradition, Festschreibung der Frauenrolle auf die des Heimchens am Herde und der Gebärerin arischer Mannen.

Deutschland einig Vaterland - ist eine Kampfparole, gerichtet gegen alle, die dem Chauvinismus, der Stiefelleckerei, dem Scheuklappendenken und dem Patriarchat nichts abgewinnen können.

Erziehung zu Anpassung und Herrschaftsdenken


Die DDR - ein Staat, der mit deutscher Gründlichkeit dem autoritären Sozialismus huldigte, ermöglichte einer Führungsclique, mit marxistischem Alleinherrschaftsanspruch, die Unterdrückung Andersdenkender.

Ein Machtgefüge, das jedwede Entwicklung eines Menschen zum freien Denken und Handeln, als Gefahr für das ausgerufene Dogma des Staatssozialismus begreift und hinter dessen platten Phrasen vom "Wohlstand für alle" nur denjenigen Zugang zu den staatseigenen "Fleischtöpfen" verschafft wurde, die in Partei und Staatsapparat kriecherisch und widerspruchslos ihre Funktion erfüllten - erzieht zur Anpassung und Autoritätshörigkeit, nicht aber zum eigenständigen Handeln, im Sinne einer echten Selbstbestimmung. Wen nimmt es Wunder, wenn nun die Wenigen, die dieses System in Frage stellten und richtigerweise aufbegehrten, um einen Weg ohne Staatssozialismus, aber auch ohne Kapitalismus zu gehen, von der breiten Masse rechts überholt wurden.

Allemal ist es leichter seine Stimme abzugeben und seine Interessen an eine Partei zu delegieren, als selbst zu denken und eigene Handlungsräume zu erkämpfen.

Gern wird der "graue" Alltag unter der aufgezwungenen Planwirtschaft mit der "schillernden" Vielfalt der kapitalistischen Ellenbogengesellschaft vertauscht, deren relativer Wohlstand in einigen "hochentwickelten" Ländern auf Krisen, Erwerbslosigkeit, Frauenunterdrückung und Rassismus basiert und sicher auf einer Politik der hemmungslosen Ausbeutung, des Hungers und des Elends der sogenannten "Entwicklungsländer" gründet.

Wie leicht verklärt der Blick auf 100.000 Stasi-MitarbeiterInnen und 100.000 Spitzel die Realitäten in der BRD - das Überwachungsnetz des BKA, BND, MAD, Verfassungsschutz, der Polizei und LKA´s. Die Zahl derjenigen, die uns überwachen, ab- und aushorchen, ausrichten, reglementieren, kontrollieren, zensieren, verurteilen, kommandieren und verwalten, kennt niemand.

Die Phrase von der "Selbstbestimmung" der Deutschen wird zum Hohn. Ein Volk, dessen einzelne Menschen, hüben wie drüben, seit der von Aussen erzwungenen militärischen Niederlage des Faschismus, niemals die Fähigkeit zur eigenen Entscheidung erlernten, gerät in nationalchauvinistischen Taumel.

Ein dynamischer Prozess, der nicht nur neofaschistische- und ausländerfeindliche Realitäten im Inneren vorantreibt, sondern auch die Vormachtstellung der BRD, nicht nur im Rahmen des EG-Kapitals, stabilisiert und potenziert die sich in den letzten Jahren herausgebildete Spitzenstellung der deutschen Wirtschaft in der kapitalistischen Aufschlüsselung des zerbröselnden Ostblocks.

Nicht nur dort werden nun die Menschen, die nach dem offensichtlichen Versagens starrer, von oben angeordneter Pläne - nach der Alternative autonomer selbstbestimmter Entscheidungsstruktur strebten - in die Enge zwischen gescheiterten autoritären Sozialismus Marx´schen Musters und kapitalistischen Sachzwang getrieben.

Auch wir werden mehr denn je, durch die Diskreditierung des "Sozialismus" und die dadurch hervorgerufene Renaissance des kapitalistischen Staats, vor die Aufgabe gestellt allen menschenverachtenden Machtsystemen unsere Vorstellung eines selbstbestimmten Lebens entgegenzusetzen. Dazu gehört nicht nur die Bekämpfung der Bevormundung durch den Staat und der gelebte Widerstand gegen das Autoritätsprinzip, sondern auch die Absage an alle Versuche sich in die Macht-/Staatssysteme einbinden zu lassen.

Für Souveränität eines jeden einzelnen Menschen - in freier Assoziation - in kollektiver Organisierung allen sozialen Eigentums.

Wir empfehlen Anarchie - gegen Herrschaft von Menschen über Menschen - für ein selbstorganisiertes Leben.

Anarchistisches Forum Wiesbaden
zuerst abgedruckt in: AStA Uni Ffm/Linke Liste (Hg.) "Nie wieder Deutschland". Dokumentation zur Demonstration, Frankfurt, Juli 1990, danach dokumentiert im Antiquariat Schwarzer Stern Katalog # 25)

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