"Rudolf Rocker – der "geborene Rebell"
Trafik # 7, Herbst 82

Trotz einiger umfassender Darstellungen der Geschichte des deutschen Anarcho-Syndikalismus und der mittlerweile sehr zahlreichen Wiederveröffentlichungen der Schriften Rudolf Rockers fehlte bislang eine geschlossene Biographie dieses "Theoretikers des Anarcho-Syndikalismus" (Souchy). Den Versuch, dieses Loch in der Geschichte der Anarchie zu stopfen, unternimmt nun Peter Wienand: "Der 'geborene' Rebell Rudolf Rocker - Leben und Werk" Karin Kramer Verlag Berlin 1981 479 Seiten, 49.80 DM

Angesichts des Umstandes, dass Rudolf Rocker selbst eine fast zweitausend Seiten starke Autobiographie, die als Manuskript immer noch im Amsterdamer Institut für Soziale Geschichte auf ihre vollständige deutsche Veröffentlichung wartet, hinterlassen hat und zudem ein großer Teil seiner Korrespondenz, die am gleichen Ort erst kürzlich geordnet werden konnte, erhalten geblieben ist, stellt sich doch die Frage, welche Intention hinter diesem Buch steht. Schließlich würde doch die Veröffentlichung Rudolf Rockers Selbstzeugnisse zweifelsfrei ein viel stärkeres Maß an Authentizität gewährleisten und darüber hinaus so manchen schlechten Beigeschmack des vorliegenden Werkes erst gar nicht aufkommen lassen. Solange aber die "Gesammelten Werke Rudolf Rockers" nicht herausgegeben werden und nach einschlägigen Erfahrungen dürfte das in diesem Jahrhundert kaum noch geschehen, wird unvermeidlich diese Rocker-Biographie als Standardwerk für die Geschichtsschreiber des Anarchismus in Europa anzusehen sein.

Das hervorstechendste Merkmal Wienands Biographie ist seine wissenschaftliche Akribie, so dass er in Kenntnis wohl fast aller schriftlichen Zeugnisse Rudolf Rockers und mit Hinweisen dessen Sohns Femin Rocker in einem großangelegten, zugleich feingliedrigen Mosaik dessen Leben und Werk Stück für Stück zusammensetzen kann. Dabei beschränkt er seine Schilderung nicht nur auf die Person Rudolf Rockers, also auf die Herausbildung und Wandlungen seines anarcho-syndikalistischen Denkens wie auch auf sein Handeln in und für die anarcho-syndikalistischen Bewegungen zahlreicher Länder, sondern dehnt sie auf das gesamte soziale, wirtschaftliche und politische Umfeld seiner Zeit aus. Gerade dieses Nachzeichnen, des historischen Rahmens, der Zeitsprünge und Überschneidungen kaum vermeiden lässt, vermittelt eindrucksvoll die individuellen und gesellschaftlichen Bedingungsfaktoren für den europäischen Anarcho-Syndikalismus. Eingefügt in diese ausladenden, aber den Rahmen sinn- und verständnisvoller Erläuterungen niemals sprengenden, Schilderungen sind sowohl Charakteristiken der bedeutendsten und für Rudolf Rocker prägendsten anarchistischen Persönlichkeiten als auch Zusammenfassungen seiner theoretischen, das jeweilige Zeitgeschehen beleuchtenden, Schriften.

Darüber hinaus reichert Wienand seine Ausführungen durch zahllose Zitate aus Rudolf Rockers Korrespondenz an, die von ihm wohl zum ersten Mal umfassend ausgewertet wurde, und so gelingt es ihm, auch auf die Persönlichkeit dieser "Vaterfigur des Anarcho-Syndikalismus" ein aufschlussreiches Licht zu werfen. Trotz dem durchaus hohen wissenschaftlichen Niveau der Biographie, wofür auch die zahlreichen und nützlichen Literaturhinweise sprechen, macht sie Wienands fast romanhafter Schreibstil leicht lesbar und vermittelt zuweilen sehr anschaulich das Gefühl ,Rudolf Rockers Werdegang beinahe Schritt für Schritt folgen zu können.

Diesen ausgesprochen anerkennenswerten und lehrreichen Gesamteindruck trübt jedoch in nicht unerheblichem Maße ein, weder vom menschlichen noch vom wissenschaftlichen Standpunkt aus zu akzeptierender, Wesenszug des Autors, der hier in einer völlig kritiklosen Heldenverehrung dieses "anarchistischen Führers" zum Ausdruck kommt. Wienand muss derart vom Leben und Wirken Rudolf Rockers angetan sein, dass ihm diese Voreingenommenheit jeglichen kritischen Blick verstellt. Wenn er überhaupt einmal leise kritische Anmerkungen macht, wie zu Rockers Vorgehen in den Richtungsstreitigkeiten innerhalb der Freien Arbeiter Union Deutschlands in den 20er Jahren oder zu den Reaktionen vieler deutscher und englischer Anarchisten gegen seine Interventionen nach dem 2.Weltkrieg von Amerika aus, so bemüht er diese umgehendst damit abzutun, dass er sie entweder persönlichen Rivalitäten oder dem unehrenhaften Charakter der Kritiker Rockers zuschreibt. Eine derartige, völlig Rockers Wesen widersprechende, Heldenverehrung mittels der Bezichtigung und Verleumdung des jeweiligen Gegenspielers, ohne auch nur im Geringsten auf dessen theoretische und praktische Motive einzugehen, lässt diese Unausgewogenheit um so nachhaltiger und unverzeihlicher erscheinen und verlangt streckenweise vom Leser ein gerütteltes Maß an Duldsamkeit.

Nichtsdestotrotz behält Wienands Werk zweifellos seinen Wert als erste zusammenfassende Darstellung des Lebens und Wirkens Rudolf Rockers und als wichtiger Beitrag zur anarchistischen Geschichtsschreibung.