Nicht nur in Genua
ai-Journal September 2001, Zeitschrift von amnesty international

Die Polizeiübergriffe am Rande des G-8-Gipfels sorgen seit Wochen für Schlagzeilen. Die immer wieder geäußerten Vergleiche mit Zuständen in Diktaturen legen die Vermutung nahe, dass das demokratische Europa seine Unschuld verloren haben könnte. Doch nicht nur italienischen, sondern auch Polizisten in anderen EU-Staaten werden immer wieder Misshandlungen vorgeworfen.

Europa ist geschockt: Polizisten wehrten am Rande des G-8-Gipfels Ende Juli in Genua nicht nur gewaltsamen Protest ab, sondern schlugen auch schlafende Menschen und wehrlose Demonstranten zusammen. Die Zeitung "La Repubblica" wählte in ihrer Berichterstattung den Vergleich mit Chile unter der Pinochet-Herrschaft. Und auch der Grünen-Politiker Hans-Christian Ströbele fühlte sich nach Gesprächen mit Augenzeugen des nächtlichen Polizeieinsatzes in einer Unterkunft der Gipfelgegner eher an eine Militärdiktatur erinnert als an eine westeuropäische und demokratisch kontrollierte Einsatztruppe. Italienische Politiker versprechen Aufklärung. Europäische Parlamentarier und Nichtregierungsorganisationen fordern unabhängige und internationale Gremien, um die Misshandlungen gegen friedliche Globalisierungskritiker und den Tod des Demonstranten Carlo Giuliani zu untersuchen. Drei hochrangige Polizeichefs mussten bereits gehen.

Experten wird der harte Polizeieinsatz in Genua jedoch nicht überrascht haben. In den vergangenen Jahren sind immer wieder Berichte über unverhältnismäßigen Schusswaffengebrauch und Misshandlungen zwischen Mailand und Palermo bekannt geworden. Nicht ohne Grund hatte amnesty international schon vor dem Gipfel an die italienischen Behörden appelliert, internationale Menschenrechtsgrundsätze zu beachten (siehe Kasten). Denn schon im März dieses Jahres waren nach Demonstrationen gegen ein Treffen des "Globalen Forums" in Neapel Misshandlungsvorwürfe erhoben worden. Anfang Juli hatte es im Hafen von Neapel Polizeiübergriffe gegen Demonstranten gegeben, als ein Schiff nach Genua auslief, wo es als Unterkunft für Gipfelteilnehmer dienen sollte.

Auch Leontine Koadijo wird über die Gewalt von Genua nicht verwundert gewesen sein. Die aus Cote d'Ivoire (Elfenbeinküste) stammende Frau war im April vergangenen Jahres grundlos tätlich angegriffen worden, als sie im Polizeipräsidium von Palermo eine Auskunft einholen wollte. Wegen einer Gesichtsfraktur musste die Afrikanerin im Krankenhaus behandelt werden. Der Polizeichef von Palermo sah sich später zu einer Entschuldigung bei Leontine Koadijo gezwungen.

Der aktuelle Jahresbericht von amnesty international schildert in seinem Italien-Kapitel mehrere Fälle, in denen unangemessener Schusswaffengebrauch von Polizisten zum Tode von Menschen führte. Eine Reihe von strafrechtlichen Ermittlungen sind noch anhängig. Dokumentationen aus früheren Jahren zeigen weitere Beispiele von polizeilichen Tötungen und brutalen Misshandlungen sowie Übergriffen in Gefängnissen, beispielsweise mit Tritten oder Schlagstöcken.

Der Blick in den Jahresbericht zeigt aber noch mehr: In allen G-8-Mitgliedstaaten haben in jüngster Zeit polizeiliche Übergriffe stattgefunden. Innerhalb der EU wurden amnesty international aus vielen Ländern Misshandlungen durch die Polizei bekannt. Neben Italien sind Belgien, Deutschland, Frankreich, Griechenland, Großbritannien, Irland, Österreich, Portugal und Spanien erwähnt. Auch die einschlägigen Berichte des Europäischen Anti-Folter-Ausschusses kritisieren Polizeieinsätze und Misshandlungen in den Mitgliedstaaten des Europarats. "Die europäischen Staaten haben keine weiße Weste, auch wenn sie Folter und Misshandlung gern als außereuropäisches Thema betrachten. Doch die Berichte aus Genua machen eigentlich nur etwas sichtbar, was es in Europa seit Jahren gibt", sagt Wolfgang Grenz von amnesty international.

In Frankreich kommt es laut ai-Jahresbericht "wiederholt zu exzessiver und bisweilen tödlicher Gewaltanwendung durch die Polizei". Besonders locker halten die Beamten offenbar die Waffe in der Hand, wenn Ermittlungen zur Aufklärung von Autodiebstählen in städtischen Ballungsgebieten stattfinden, in denen viele Einwanderer leben. Nachdem im April 2000 der Algerier Riad Hamlaoui in Lille von einem Polizisten mit einem Schuss aus kurzer Entfernung getötet wurde, kam es zu tagelangen Unruhen. Hamlaoui war Beifahrer in einem offenbar gestohlenen Fahrzeug. Als die Polizei den Wagen anhielt und der Fahrer ausstieg, machte Riad Hamlaoui nach Darstellung des Beamten eine "abrupte Bewegung". Der Polizist schoss, weil er die Bewegung als Griff zur Waffe interpretierte.

Die gegen französische Polizisten gerichteten Misshandlungsvorwürfe betrafen in den meisten Fällen Einwanderer. Der aus Sierra Leone stammende Shekuna Sumanu wurde am Silvestertag des vergangenen Jahres in einem Hotel am Flughafen Roissy-Charles de Gaulle von betrunkenen Polizisten attackiert und rassistisch beschimpft. Mit einem Schlagstock wurde er so stark verletzt, dass er in einem Krankenhaus behandelt werden musste.

Auch in den anderen EU-Staaten verlaufen die dokumentierten Misshandlungen nach ähnlichem Muster. In Spanien konstatiert amnesty international eine "weit verbreitete Polizeibrutalität" und kritisiert Übergriffe und Todesfälle in der Haft, Misshandlungen von Einwanderern sowie den Einsatz exzessiver Gewalt gegen Demonstranten. Vor allem Einwanderer sind in zahlreichen europäischen Ländern von Übergriffen betroffen, die zumeist mit rassistischen Beschimpfungen einhergehen.

Medizinische Gutachten belegen in vielen Fällen, dass unverhältnismäßige Gewalt die Ursache von Prellungen, Knochenbrüchen oder anderen Verletzungen war. Wer sich traut, gegen schlagwütige Polizisten gerichtlich vorzugehen, muss in vielen Fällen mit einer Gegenanzeige – beispielsweise wegen "Widerstand gegen die Staatsgewalt" oder wegen "Beleidigung" – rechnen. So erging es auch zwei jungen Österreichern, die am 3. März 2000 mehrere Stunden nach einer Demonstration gegen die Regierung in Wien plötzlich von Polizisten in Zivil aus dem Auto gezerrt und gewaltsam zu Boden gestoßen wurden. Später wurde noch Anklage gegen sie erhoben, weil sie sich bei der Festnahme gewehrt hätten. Augenzeugen sagten aus, es sei für niemanden erkennbar gewesen, dass es sich bei den vermummten Beamten um Polizisten gehandelt habe. "Die Polizeigewalt von Genua ist kein neues europäisches Phänomen", sagt Wolfgang Grenz. "Neu ist nur die öffentliche Diskussion."

Harald Gesterkamp


"Zügige und vollständige Aufklärung"
ai-Journal September 2001, Zeitschrift von amnesty international

In einem Brief an den italienischen Regierungschef Silvio Berlusconi hat amnesty international eine unabhängige Untersuchungskommission gefordert, die Menschenrechtsverletzungen durch Sicherheitskräfte während des G-8-Gipfels in Genua aufklären soll.

Nach den ai bisher vorliegenden Berichten wurde Gewalt selbst gegen friedliche Demonstranten angewendet. Außerdem wurden Inhaftierte mit Gewehrkolben und Schlagstöcken misshandelt. Zudem war die Meinungs- und Versammlungsfreiheit eingeschränkt. So wurde eine Gruppe griechischer Demonstranten bereits im Hafen von Ancona zurückgewiesen. Dabei kam es nach Angaben der Betroffenen zu gewalttätigen Übergriffen der Sicherheitskräfte.

Bei einer Razzia im "Genoa Social Forum" wurden zahlreiche Personen verletzt. Rund 20 von ihnen mussten anschließend auf Tragen aus dem Gebäude gebracht werden. In einigen Fällen war eine Krankenhausbehandlung notwendig. Darüber hinaus kam es zu willkürlichen Festnahmen. Häufig wurden den Inhaftierten grundlegende Rechte wie der Kontakt zu einem Anwalt oder medizinische Versorgung vorenthalten. Die von ai geforderte Aufklärung der Übergriffe durch eine unabhängige Kommission sichert nicht nur die berechtigten Interessen der Opfer, sondern kann auch unbeteiligte Sicherheitskräfte vor ungerechtfertigten Anschuldigungen schützen.

amnesty international hatte bereits vor dem Gipfel an den italienischen Innenminister geschrieben und ihn gebeten, sicherzustellen, dass die Sicherheitskräfte in Menschenrechtsfragen geschult werden und die internationalen Regeln im Umgang mit Demonstranten und zum Schusswaffeneinsatz jederzeit beachten. ai hat die Behörden jetzt um Aufklärung gebeten, welche Anweisungen und Informationen die Beamten in der Vorbereitung auf den G-8-Gipfel erhalten haben.