Brief aus Leipzig
ursprünglich in der Interim abgedruckt

Projektil # 8, Jan. 90, anarchistisches magazin aus Münster

Damit nach Lesen meines Textes auch jeder gleich weiss, wo er mit seiner Kritik (Verurteilung ansetzen muss, was zu mir: Ich bin parteilos (und werd's auch sicher bleiben) und arbeite in einigen unabhängigen Gruppen der bunten (bzw. schwarz-roten) Szene in Leipzig mit.

DIE LAGE IST ERNST - ABER HOFFNUNGSLOS!
Persönlicher Bericht zur Lage in Leipzig

1. Der Staat:
ist natürlich, (wie überall?) heilig und auf der Strasse, wie von Aussen (zum Glück!) unantastbar. Dabei ist ihm diese Sicherheit gar nicht so sicher Die Regierung, von Jedermann (und möglicherweise sogar vom eigenen Gewissen bedrängt, ist gelähmt und verkriecht sich in die Politfestungen. So isoliert vom Revoluzzervolk grübelt und bastelt man an den Zauberformeln für die künftige, heile DDR -Welt. Vertrauen, gar Einfluss hat sie relativ verloren und etwaige Fernsehübertragungen haben eher den Status einer Unterhaltungssendung.

Gesetzlichkeit und Justiz, immer noch mit den inzwischen veruralteten Rechtsfahrplänen ausgerüstet konzentrieren sich brav auf Ladendiebstähle und übliche Delikte b Erwartung, dass auch sie bald der göttliche Atem zu neuem Leben erweckt (bloss, wer spielt Gott?). Der Polizeiapparat lächelt schleimig und drückt dienstbeflissen Visastempel in die Perso's, regelt untertänig bei Demos den Verkehr, (die Feuerwehr marschiert gleich mal mit - auch MdI!!!) ! und in der Stasi wird man wohl dabei sein, Akten zu verbrennen und weisse Westen zu schneidern.

Die SED Partei, auf die sich momentan in geistiger Einfalt Alles einschiesst, zieht sich deprimiert zurück und lässt ihre märtyrergenossen ins Pfeifkonzertmesser des zähnefletschenden ob's laufen. Als momentan einzige Kraft, die in der Lage wäre (strukturmässig und wegen der hohen Mitgliederzahl) Landesweite Initiativen anzukurbeln, verpasst sie Stund um Stund ihre Chance und Pflicht, beweist ihre Unfähigkeit der Führung der Werktätigen. Statt sofort Grundlagen zu schaffen, um das sozialistische System zu retten und die marschierenden Rechten zu stoppen, steigen sie kampflos als Prügelknaben in den Ring... Die rissige Wirtschaft, durch die politischen Beben noch mehr ins Schwanken gebracht, wird von Gastarbeitern, Armee und abnehmender Stammbelegschaft krampfhaft aber Wasser gehalten. Eine Frage der Zeit, bis diese das Handtuch werfen, bei der gegenwärtigen Offenlegung der realen Wirtschaftskennziffern bzw. Situation, dem Geldverfall und der schleichenden Inflation.

2. Die politischen Gruppen
Die Blockparteien offenbaren ihren opportunistischen Charakter, hängen ihre Fahnen (ihre dreckige Vergangenheit unter den lisch kehrend) in den rauhen Wind und werben Wahlkämpferisch um potenzielle Anhänger.

Massenorganisationen wie FDJ und FDGB, die über Nacht ihre Mündigkeit erworben haben, kosten das süsse Brot der unbegrenzten Möglichkeiten voll aus und baden sich in köpf(hirn)losen Politforderungen. Als die Truppe mit Zukunft gilt hier die neuentstandene SDP. Clever alte Parolen benutzend und auf Traditionen rumhackend, verstehen es diese, die Arbeiter zu begeistern und mitzureissen. Die Westdeutsche SPD dürfte da nicht unerhebliche Schützenhilfe leisten- - die SDP tritt z.Zt. als einzige Kraft perfekt durchorganisiert, kompakt und selbstsicher auf. Phrasenhaft vereinnahmen sie (wie fast alle politischen Gruppen) Begriffe, wie Ökologie, Pluralismus und Demokratie in Politik und Wirtschaft.

Deutschlandfahnen schwenkend verschleiern sie (letzter Montag in Leipzig) der Arbeiterschaft die Ohnmacht der Sozialistischen Internationale. Das Neue Forum zerfleischt sich momentan in internen Diskussionen Ober Parteizukunft oder nicht, gerät im harten Wahlkampf mit der unge-wohnten-geübten-bcherrschten) Basisdemokratie natürlich völlig unter die Räder und verliert mehr und mehr Sympathien zugunsten anderer Gruppen.

Führungsunkstimmigkeiten alles ehrenamtliche und unerfahrene Mitarbeiter) und differenzierte politische Ansichten führen zu Verzettelungen, Kleinkriegen und Blockspalterei. Auch diese Organisation erhält (ihrer Popularität halber) Angebote über Angebote /z.B. Büros), kann diese aber wegen der ungenügend ausgeprägten Strukturen kaum ausnutzen. Die anderen polit. Strömungen kann man in etwa diesen beiden Trends zuordnen. Die politischen Vorstellungen aller Gruppen gleichen sich relativ - hier geht es jetzt immer mehr um die Macht.

Die (alten) Kirchengruppen:
Diese sehen sich von den offiziellen Strömungen mit ihren eigenen alten Forderungen überrannt. Viele Leute sind Um- oder Ausgestiegen (go West) und kaum einer kümmert sich mehr um die eigentlichen Vorkämpfer der Bewegung. Die Situation dieser Leute zu Vorzeit hat sich kaum geändert. Ihren alten Zielen (z.B. Menschenrechte, Umweltprojekte bzw. Weltanschauungen) treu bleibend und nicht in programmatische Parteiverallgemeinerungen verfallen, haben diese kaum mehr eine Stimme, haben Mühe sich am Leben zu erhalten. Es fehlt weiterhin an Vervielfältigungsmaterial, Räumen und Unterstützung. Zu erwarten ist, dass die Kirche mittlerweile nicht mehr *angewiesen auf das Druckmittel ihrer politischen Gruppen gegenüber dem Staat) sich bald dieser (seit jeher nur zum Selbstzweck geduldeten) schwarzen Schafe entledigt und um in dieser politisierten Zeit überhaupt noch etwas darzustellen wieder auf einer (konservativen)-frommen Welle zureiten beginnt.

Die Gefahr besteht, dass jetzt, wo der Kapitalismus nicht mehr böse und die Opposition nicht mehr bedrohend ist, neue Feindbilder her müssen(wenn man schon nicht konkret FÜR etwas ist, muss man wenigstens gegen was sein!) Besonders bieten sich da Randgruppen an, auf die der Bürger seit jeher gnatzt hat, wie z.B. Punks, Alternative, Aussteiger, Ausländer, Homosexuelle usw. wobei ich zum Punkt 3. komme:

3. Der Rechtsdruck:
Im geschmacklosen Wahlkampf beweisen die Parteien leider ihre (40 Jahre geschulte) politische Unmündigkeit und Kurzsichtigkeit! Verschleierter Nationalismus marschiert, Deutschlandfahnen wehen, Wiedervereinigung wird verlangt, man besinnt sich auf (schon mal missbrauchte) deutsche Tugenden. Das begeistert das Volk auf der Strasse, das zu faul, zu träge /zu dumm???) ist aus ihm durch Regierungsohnmacht gebotenen Spielraums etwas wirklich Gutes zu machen, und das sich lieber (treudeutsch) laut grölend hinter einen Leithammel stellt, als das Heft der Geschichte selbst in die Hand zu nehmen. Mit Sicherheit gebrauchen viele das Wort Sozialismus nur als Etikette, ohne sich richtig bewusst zu sein, was das eigentlich ist. Sie rennen bürgerlichen Idealen (und Parolen – Danke ARD*ZDF) nach, verlieren regelrecht die Nerven nach Grenzöffnung und ergeben sich begeistert und kampflos der Konsumgesellschaft. Die neuen Gruppen haben nichts wichtigeres zu tun, als Menschenketten durch die DDR zu organisieren (sehr geistreich!) und die Leute aufzufordern sich 40cm Stoffstreifen an die Autoantennen zuknoten (hoch lebe die Revolution!).

Die Montagsdemos z.Zt. machen Angst. – Die schon erwähnten Initiatoren der Bewegung aus Sankt Nikolei haben das Feld geräumt um sich nicht mit der Masse identifizieren zu müssen, die Deutschlandrufe skandiert, Fahnen schwenkt, sich in neue Parteien einordnet (Die sich wie’s momentan scheint genauso intolerant gebärden, wie die alte SED!). Gegensätzliche Meinungen (Redner) werden primitiv ausgepfiffen, SED Leute werden extrem diskriminiert und man putscht sich in Reden emotional gegen die Altrepräsentanten des Staates auf. Vom neuen politischen Niveau ist da nichts zu merken. Ein eiskalter Schauer geht einem den Rücken runter, erlebt man das hasserfüllte Auftreten vieler Leute, sieht man die Primitivität und Destruktivität der Parolen spürt man die Intoleranz und Kurzsichtigkeit der gemachten politischen Äusserungen.

Um uns vom rechten Montagspotential abzusetzen entschlossen wir uns am 20.11. als einheitlicher Block gegen Faschismus, Rassismus, Sexismus, gegen faschistoide Tendenzen, Wiedervereinigung und für Autonomie und Sozialismus aufzutreten. Trotzdem wir die rote Fahne, als Symbol der Arbeiter mitführen (Die SDP trug dagegen lieber die Schwarz-Rot-Goldene!) und bewusst gewaltlos und zurückhaltend auftraten, schlug uns der Unwillen und geistlose Hass vieler Oktoberrevoluzzer erschreckend entgegen (obwohl wir insgeheim damit gerechnet hatten). Ausser einigen Jugendlichen und Intellektuellen begriff wohl keiner was wir wollten.

4. In eigener Sache
Wir als unabhängige Gruppen stehen momentan wieder bei der Stunde 0. Mittlerweile organisieren wir uns neu (der Aderlass von Leuten an den Westen ist überstanden) und versuchen frei gewordenes Terrain zu erobern. Dabei fehlt es nach wie vor an Vervielfältigungsgeräten und Infomaterial um von den stärker werdenden Polithaien nicht abgewürgt zuwerden. Die offenen Grenzen ermöglichen jetzt endlich Kontakte und Zusammenarbeit zu – mit befreundeten Gruppen, nur ist es real so, dass der Westen einen grossen Schritt weiter ist als wir und er im grossen auch andere Bedingungen (Imperialismus-Militarismus) hat und damit auch ganz andere Aufgaben. Bei uns ist der Kampf ums System derzeit sinnlos, (bzw. selbstzerrstörerisch) da es einen klaren Kurs (Gegner) nicht gibt. Die Gefahr ist jetzt auf der Strasse und auch nur dort zu bekämpfen (mit Aktionen, Aufklärungsschriften und –reden, thematischen Veranstaltungen, Konzerten, eigenen Zeitungen usw.)

Um an die grossen Medien zukommen (denn nur die beeindrucken die Masse) muss man erst mal eigene Stärke (in Theorie und Aktionen) beweisen und die müssen wir uns jetzt hier ganz schnell aufbauen. Dabei bewährt sich die Zusammenarbeit mit westlichen Gruppen auf grundsätzlichen Gebieten. Speziell (also konkrete Soliaktionen) muss man genau abwägen um nicht miss-unverstanden zuwerden (und sich dabei selbst zuschaden). In diesem Bündnis müssen wir uns geschickt abstimmen und gegenseitig helfen um uns so untereinander zu stärken.

Verallgemeinerungen im Auftreten und Handeln dürfen wir uns aufgrund der unterschiedlichen Verhältnisse nicht leisten, Zusammenarbeit und gegenseitige Solidarität aber ist wichtig!