Identität und Politik
Die Eule # 4, Ende 1997, Anton Feinbein

Ein meines Erachtens schwerwiegendes Problem innerhalb politischer Szenen, und deshalb auch innerhalb emanzipatorischer Gruppen / Strömungen ist das Phänomen der Identitätspolitik, welche ich in gewisser Weise als Gegensatz zu inhaltlicher Politik sehe. Das Kennzeichen von Identitätspolitik ist, das Inhalte nur vermeintlich im Vordergrund stehen, in Wirklichkeit werden sie benutzt, um sich eine Identität zu erschaffen, durch diese sein Ansehen oder seine Bekanntheit und daduch sein Selbstwertgefühl zu steigern.

Identität und Inhalt
Sicherlich sind Inhalte und Identität in gewisser Weise immer miteinander verbunden; und sicherlich ist es nicht falsch, sondern eher positiv, sich mit den Inhalten, die mensch vertritt, auch verbunden zu fühlen. Problematisch wird es aber, wenn die Identität gegenüber den Inhalten im Vordergrund steht, d.h. die Inhalte werden starr, weil sie nicht mehr individuell wandelbar, sondern starr an eine Personen/Gruppenidentität ("Autonome", "Linke", "MarxistInnen", "Punks", "VeganerInnen" etc.) gebunden sind. Die Folgen sind oft Cliquenpolitik, unkritische Selbssicherheit, Überheblichtkeit und Arroganz; und eine inhaltliche "Weiterentwicklung" findet, wenn überhaupt, oft nur mittels des Ablegens der gesamten alten Identität und der mit ihr verbundenen Inhalte und der Annahme einer komplett neuen statt, z.B. durch die Wandlung vom "Veganer" zum "Linken", oder vom "Straight Edger" zum Forschungsminister für bewußtseins-erweiternde Substanzen.

Sich als "autonom", "links(radikal)", "revolutionär", oder auch "vegan", "punk", "Straight edge" etc. zu bezeichnen, scheint für viele Leute nicht nur die Übernahme der mit diesen Begriffen evtl. verbundenen Inhalte mit sich zu bringen, sondern vor allem auch eine Art sich zu geben, zu verhalten, zu kleiden, zu sprechen, zu frisieren u.ä. - allgemein ausgedrückt, sich anzupassen an die Verhaltensnormen einer gewissen Clique und sich abzugrenzen vom Rest der Gesellschaft oder auch von einer größeren Clique, innerhalb derer sich eine oder mehrere kleine gebildet haben. Ich habe so ein wenig den Eindruck, daß es vielleicht nicht ganz so sinnvoll ist, wenn der mit bestimmten Begriffen/Kategorien verbundene Style im Vordergrund steht und nicht die verbundenen Inhalte, zumal Begriffe, Kategorien und auch Parolen alleine nicht gerade geeignet sind, tiefsinnige Inhalte zum Ausdruck zu bringen; so ziemlich jeder und jede wird sich unter bestimmten Begriffen/Kategorien etwas anderes vorstellen.

Die Betonung des "Styles" und der Kategorien (links, vegan etc.) statt bestimmter, im jeweiligen Zusammenhang jeweils relevanter Inhalte führt dahaer weniger zu einer inhaltlichten Auseinandersetzung, als mehr zu Abgrenzungen und gegenseitiger Kategorisierung. (Marke "Wer nicht mitmacht, ist gegen uns")

Weitere hervorstechende Beispiele für Identitätspolitik, die sicherlich nur die Spitze des Eisberges darstellen, sind z.B.

- oberlehrerhaftes, einschüchterndes Auftreten, z.B. bei öffentlichen Diskussionen oder auch in internen Gruppenplena: Bei einem derartigen Verhalten scheint es nur allzu deutlich zu sein, daß es der betreffenden Person eher um Selbstinszenierung als um inhaltliche Auseinandersetzung geht, denn sie wird wohl kaum ernstzunehmenderweise erwarten können, daß derartiges Auftreten zu einer konstruktiven Inhaltsfindung beiträgt.

- Der posermäßige Umgang mit Symbolik (Fahnen, Abzeichen, Transparenten; aber auch verbal: Parolen, Phrasen, Floskeln, Fachbegriffen, Fremdwörtern). In einem ein beachtliches Maß an negativem Aufsehen erregenden Fall in der Vergangenheit von Earth First! z.B. das nicht unerheblich selbstdarstellerische Fahnenschwingen auf einem Hügel während einer Demonstration: Auch hier dürfte es den diese Tätigkeit ausübenden Personen schwerfallen, zu begründen, inwieweit ihre Tätigkeit zur Vermittlung von Inhalten, gescheige denn zu einer Auseinandersetzung um selbige beitragen soll.

- Bei Diskussionen gilt:
Wenn die Identität gegenüber den Inhalten im Vordergrund steht, stehen bei Auseinandersetzungen nicht verschiedene Inhalte, Argumente/Argumentationsmuster, Ideen, Denkstrukturen, inhaltliche Voraussetzungen etc. gegeneinander, sondern verschiedene Identitäten. Weil die Identität gegenüber den Inhalten im Vordergrund steht, bzw. die Inhalte mißbraucht werden, um eine persönliche Identität aufzubauen, kommt es zu einer Personalisierung der Inhalte, zu einem Person-gegen-Person, statt Inhalt-gegen-Inhalt-Denken.

- Männerverhalten und Identität
Eine der Ursachen von Identitätspolitik dürfte sicherlich der Wettbewerb unter sich als männlich definierenden und definierten Individuen sein, innerhalb einer bestimmten männlichen Hierarchie möglichst weit nach oben zu steigen. Je mehr eine politische Struktur männlich- und konkurrenz-dominiert ist, desto mehr Erfolg haben die konkurrierenden Männer mit ihrer Poserei, und desto weniger wird ihr Verhalten kritisiert/angegriffen.

Identität und Korpsgeist
im Verbund mit anderen Identitässuchenden kommt es zusätzlich zur Bildung eines sich durch diese Identität nach außen abgrenzenden Korpsgeistes, der der inhaltlichen Vermittlung sicherlich auch nicht gerade dienlich ist, und deshalb ebenfalls die Vermutung nahelegt, daß das Identitätsempfinden wichtiger ist als das Inhaltliche.

- z.B. wenn die Konformität an eine bzw. das Posen it einer bestimmten Frisur- und Kleidungsordnung, den Inhalten gegenüber eindeutig im Vordergrund steht. Diese Ordnungen können, und hier zeigen die AkteurInnen ihre Verbundenheit zur KonsumentInnenideologie, auch von Zeit zu Zeit wechseln, je nach aktueller "revolutionärer Mode", Gerade Moden, oder auch sog. "Trends", sind ein bezeichnendes Beispiel für inhaltslose Konformität und Identitästsuche in einer Gesellschft; ein Ausdruck der (unbewußten?) Integration des Selbst in die herrschenden Verhältnisse.

- Auch das betonte Sprechen in einem bestimmten politischen / subkulturellen Slang kann Ausdruck des Korpsgeistes sein, denn derartige Abgrenzung nach außen trägt sicherlich nicht zu einer konstruktiveren Diskussion um Inhalte bei.

Die Folgen des Korpsgeistes sind u.a. auch:

- (vorgetäuschte Selbstsicherheit;
- man fühlt sich persönlich angegriffen, wenn Kritik an bestimmten Inhalten geäußert wird.
- daraus folgt oft, daß es nicht zu inhaltlichen Auseinandersetzungen, sondern zu eineer "Wir gegen sie" bzw. "Sie gegen uns"-Einstellung, zu einem Wettkampf der Identitäten, kommt.
- man ändert seine Inhalte nicht aufgrund von Kritik, Überlegungen, Erfahrungen, Weiterentwicklung, sondern danach, welche Inhalte (d.h. in diesem Zusammenhang also eher: welche Identitäten) einem jeweils ein hohes, oder besonderes Ansehen verschaffen; welche gerade "in" sind, oder von der Gruppe / Clique, zu der man sich zugehörig fühlt, verlangt werden.

Männerverhalten und Korpsgeist
Oftmals verbinden sich "männliche" Identitäspolitik und Korpsgeist, und es kommt zur Bildung von Männerbünden.
Auch dann, wenn diese nicht bewußt bzw. "absichtlich gebildet werden, sondern aufgrund der unter den hier herrschenden Verhältnissen erfolgenden Sozialisation zur "männlichen Identität", führen sie doch stets in gewisser Weise zur (unbewußten) Ausgrenzung von und Abwehrstrategien gegen eigene, nicht-"männliche" Eigenschaften und den sich in betreffenden Punkten nicht mit der "männlichen" Identität identifizierenden Personen. Wichtig ist die Erkenntnis, daß die Merkmale einer "männlichen Identität" nicht auf das biologische "männliche" Geschlecht beschränkt sind, sondern genauso von Frauen übernommen werden können.

Merkmale "mänlichen" Korpsgeistes und "männlicher" Identitätspolitik sind:
- Hervorhebung des "Männlich"-Martialischen (Kriegerischen/Kämpferischen, z.B. durch Militanzgepose, um besonders revolutionär und gefährlich zu erscheinen, das in der Regel jedoch kaum emanzipatorische Wirkungen nach sich zieht. Es sollte aber wohl unterschieden werden zwischen Militanzgepose und einem nicht geposten Anwenden von Militanz)

- Freund-Feind-Polarisierung; (Insbesondere bei deutschen politischen Gruppierungen weit verbreitet; je mehr die Gruppe daran glaubt, sie würde die eine, objektive, immerwährende Wahrheit vertreten, desto mehr greift diese Polarisierung; Im Allgemeinen werden andere widerständische Gruppen nicht als ersteinmal positive, willkommene Ergänzung innerhalb einer Vielfalt emanzipatorischer Bestrebungen angesehen, sondern als unnötige, für die eigenen Machtgelüste potentiell schädliche Konkurrenz angesehen. Im Extremfall wird sogar versucht, andere Gruppen/Personen durch Hetze, Intrigen, Diffamierungen, etc auszuschalten - "RevolutionärInnen" spielen das kapitalistische, patriarchale Spiel.)

Kollektive Feindbilder, wie Faschos, "Bullen", "der Staat", ..., erfüllen oftmals die Funktion des letzten Zusammenhalts, des minimalsten Konsens. Doch das bloße, billige Gegen Faschos, Bullen, Politiker, Bonzen-Sein führt in die Sackgasse, wenn nicht die individuellen und gesellschaftlichen Machtstrukturen analysiert und bekämpft werden, die diese Personen hervorbringen, und durch die diese Personen ihre Macht erlangen, bzw. durch die ihre Macht akzeptiert oder ga respektiert wird.

- Alles-oder-Nichts-Denken ("Sieg oder Untergang"; ebenso wie das Freund-Feind-Denken verhaftet in binären Denkschemata. Kennzeichen ist das Konstruieren von und Denken in absoluten, unversöhnlichen Gegensätzen, welches typisch ist für die abendländische patriarchale Gesellschaft. Die Folgen sind Engstirnigkeit, Starrheit im Denken, Ablehnung von Zusammenarbeit mit Leuten, die nicht 100% eigenen Ideologie entsprechen - Das Egebnis des Alles-Oder-Nichts-Prinzips ist in der Regel das "Nichts" und nicht das "Alles", doch den VertreterInnen der "reinen Lehre" war ihre eigene Reinheit schon immer wichtiger als etwas zu erreichen)

- Führer-Gefolgschaft-Prinzip (Bestimmte Führungspersonen geben die "korrekte Linie" vor, die anderen passen sich ihr unkritisch an.)

- Elitarismus (sich / seine Gruppe für die revolutionäre Avantgarde zu halten. Sobald man sich oder seine Gruppe für etwas "Besseres" hält als die anderen, ist das Merkmal der Politik Elitarismus und nicht mehr Emanzipation)

Aus der Vorherrschaft des Männerbundes in der deutschen Geschichte folgt für Nicolaus Sombart (in seinem Text Männerbund und politische Kultur in Deutschland, abgedruckt in: Männergeschichte - Geschlechtergeschichte: Männlichkeit im Wandel der Moderne, Hg. von Th. Kühne, Frankfurt 1996):

Neben dem "Männerbund" als soziologischem Idesltypus (Urbild/Grundform, die ausschließlich alle die Merkmale aufweist, aufgrund deren es einer bestimmten Gruppe zuzuordnen ist) wird man heute das "Männerbundsyndrom" (Syndrom: Guppe von Merkmalen oder Faktoren, deren gemeinsames Auftreten einen bestimmten Zusammenhang oder Zustand anzeigt) als psychisches Verhaltensmuster und als Mentalitätsraster einer detaillierten Untersuchung unterziehen müssen. Es wurzelt in einer psychischen Disposition (Anlage zu einer immer wieder durchbrechenden Eigenschaft oder zu einem typischen Verhalten) deutscher Männer und ist eine Folge der Organisation ihrer Triebstruktur in einem für die deutschen Verhältnisse typischen Sozialisierungsprozeß - führt also zu einer bestimmten Persönlichkeitsstruktur, einem Typus (Urbild), der sich in seinem Fühlen, Denken und Handeln auf eine charakteristische voraussehbare stereotype (ständig wiederkehrende, leere, abgedroschene) Weise verhält, die man als "männerbündlerisch bezeichnen kann. Das reicht von der Mimik und der körperlichen Geste bis in die kapillarischen (haarfeinen) Verästelungen des intellektuellen Habitus (Erscheinung, Haltung, Gehaben). Als sspezifische Sensibilität (Empfindsamkeit) und Mentalität (Geisteshaltung, Einstellung) ist das "Männerbundsyndrom" auch dort nocht wirksam und nachweisbar, wo es eine akute Männerbindung nicht (mer) gbt. Der "Männerbund"-Typus und das "Männerbund"- Denken sind zur Lebensführung und Lebensordnung prägenden Form eines ganzen Volkes geworden. (S. 151)

Wenn es stimmt, was Sombart schreibt, daß das "Männerbundsyndrom vielleicht der entscheidende Faktor der deutschen Mationalgeschichte ist", dann sollte eine, auch selbstkritische, Analyse eben dieses Syndroms Bestandteil nicht nur antifaschistischer und antipatriarchaler, sondern auch aller anderen emanzipatorischen Bestrebungen sein.