Das Ende des Stalinismus und unsere Unfähigkeit damit umzugehen
Projektil # 8, Januar 90, anarchistisches magazin aus Münster

Gerichtet vom Volk liegt der letzte Stalinist Europas in seinem Blut. Ein Schauer der Genugtuung huscht durch die Fernseh-Zimmer der Republik, der freiesten, die es auf deutschem Boden je gab. Man jagt dieser Tage Diktatoren - gemütlich vor der Tagesschau und diversen Sondersendungen - und das beste: sie passen zur eigenen weißen Weste, diese grauenhaften Stalinisten im Osten.

Amnesty empört sich über die Unmenschlichkeit der Todesstrafe. Ansonsten kaum politische Auseinandersetzung mit dem, was in dieser historischen Stunde passiert. Die Krise des etablierten Staatssozialismus, des realsten, den es auf europäischem Boden je gab, offenbart urplötzlich die Krise der Linken in der BRD. Und dabei denke ich am wenigsten an die DKP, die UZ oder Pahl-Rugenstein, denen nun die finanzkräftigen Anzeigen aus dem Bruderstaat verweigert werden. Auch denke ich nicht an die Grünen, die sich mit hilflosen Reden im Bundestag und nicht weniger hilflosen Demonstrationen gegen den Ausverkauf der DDR einen eigenständigen politischen Anstrich inmitten des allgemeinen Deutschlandtaumels von CDUFDPSPD zu geben versuchen. Es ist vornehmlich die radikale autonome Linke, der dieser Tage ihr Nichtverhältnis zum Stalinismus auf die Füße fällt. In Berlin musste auf der Vorbereitung zu einer Kiezdemo plötzlich diskutiert werden, wie man/frau es mit Stalinportraits auf der Demo halten wolle (vgl. Interim Nr.82).

Aber gerade wir Anarchistinnen und libertäre Autonome könnten ja perfekt auf der antistalinistischen Welle schwimmen. Wir könnten deutlich machen, dass wir immer gegen Stalinismus und jede Form des Staatssozialismus gekämpft haben, dass schon Bakunin vor über 100 Jahren ... usw., usw.

Die Völker Osteuropas stecken in einem eindeutigen Befreiungsprozess. Diese Befreiung, das war immer unsere Meinung gewesen (und das sehen wir wie Marx und Bakunin), kann nur das Werk der Arbeiterinnen sein und nicht (da unterscheiden wir uns von Lenin und Stalin) die Aufgabe einer straffen, elitär-autoritären KP. Wir könnten mit dem Umbruch in Osteuropa die naheliegendste Chance auf einen freiheitlichen Sozialismus verbinden. Doch in dem Augenblick in dem ich diesen Satz schreibe wird mir deutlich wie vermessen und realitätsfern diese Hoffnung ist. Sicherlich gibt es gute Gründe an denen wir solche Hoffnungen festmachen können. Die sich abzeichnende freiere politische Entfaltung heißt auch freiere Entfaltungsmöglichkeit einer radikalen Linken im Osten, ja wir können sogar ernste Ansätze der Organisierung anarchistischer Opposition erkennen, wie "MA" in Polen, "KAS" in der Sowjetunion, die "Vereinigte Linke" in der DDR, "Autonomia" in Ungarn, etc. Alle diese erfreulichen neuen radikalen Föderationen und Zusammenschlüsse sollten aber nicht deren relative Bedeutungslosigkeit in dem Umgestaltungsprozess überdecken - die Weltgeschichte wird derzeit im Westen gemacht!

Während die DDR-Bürgerinnen sich im Erproben der neuen Freiheiten üben, plant das Kapital unaufhaltsam an seinem zukünftigen Eroberungsfeldzug. Die Allianz am "Runden Tisch" deckt längst vergangene Skandale auf, jagt die volkseigenen Bonzen und lässt sich, ohne es zu bemerken, jene aus dem Westen aufschwatzen.

Die neue Welle des Nationalismus ist nicht aus echten Wiedervereinigungsgefühlen geboren, sondern aus den Vorgaukeleien der Westmedien, aus der Einmischung die den Leitsatz "Keine politische Freiheit funktioniert ohne Marktwirtschaft" in den Osten führt. Diese machtorientierte Propaganda und die Tatsache, dass die Menschen über 40 Jahre in politischer Unmündigkeit gehalten wurden, führen gemeinsam zu der neuen Welle des Nationalismus in der DDR und dazu, dass ein Politik- und Wirtschaftskurs á la BRD immer mehr als die Lösung aller Probleme angesehen wird. Mensch kann es ihnen schließlich nicht verübeln, dass sie an mehr Konsum teilhaben wollen - und da spielen Vergleiche mit Großbritannien, dessen Lebensstandard der Bevölkerung wesentlich niedriger ist als in der DDR, keine Rolle. Was zählt, und was vor Augen geführt wird, ist der Standard der BRD.

Eine grauenhafte Vision erscheint in unseren antistalinistischen Köpfen: Die Vision einer weltweit nivellierten, Kapitalherrschaft, in der der Osten das Armenhaus Europas wird, dem weltwirtschaftlich die Aufgabe der Ausbeutung der "Drittweltstaaten" zugeteilt wird. Die Ausbeutung Osteuropas, zeitgleich mit der Integration von politischer und wirtschaftlicher Macht, wird diese Staaten zur Ausbeutung des Trikont zwingen. Und wir stehen sprachlos vor dieser Vision, deren Entwicklung heute gerade beginnt.

Unsere Sprachlosigkeit, die daraus röhrt, dass jede Alternativentwicklung, die Idee eines freiheitlichen Sozialismus z.B. in der DDR zur Zeit an der Macht des Faktischen zugrunde geht, ist aber auch zu weiten Teilen die Folge unserer "Politik der Nichteinmischung". Damit meine ich die verbreitete Haltung, sich zu den Entwicklungen in Osteuropa, speziell der DDR, auf den Standpunkt einer tatenlosen Solidarität zu stellen, nach dem Motto: "Die Befreiung vom Stalinismus ist die Sache derer, die ihn momentan abschütteln, und wir haben uns da nicht einzumischen." Grundsätzlich denke ich, dass diese Haltung richtig ist, aber angesichts der massiven Einmischung von Seiten des West-Kapitals werden wir mitverantwortlich und müssen ein Verhältnis dazu entwickeln.

Ich meine, es ist dringend nötig eine starke Solidarität mit der radikalen Linken in den Staaten Osteuropas aufzubauen. Unsere Unterstützung der revolutionären Kräfte dort und der ständige Angriff auf die Machtpolitik des BRD-Kapitals (gerade an der versuchten Verschiebung der Atomwirtschaft nach Osten besonders deutlich geworden) sollten die beiden Seiten der Medaille sein, die wir allerdings erstein mal ernsthaft in Angriff nehmen müssten. Unsere Aufgabe sollte es nicht sein die Idee von Anarchismus oder Rätesozialismus für die DDR oder die anderen Regionen Osteuropas zu propagieren, sondern die Vorstellungen der GenossInnen, die konkret in den derzeitigen Prozessen von Befreiung und Wiedervereinnahmung drinstecken, zu stützen.