Anarchistische Parlamentarismuskritik (APK)
Referat von Lou Marin (GWR) am 8. September 2002 in G16

Eine Tour de Force durch anarchistische Theorie und Geschichte von APK.
Anwesend waren teilweise bis zu 20 Personen.

Anregung: Inwiefern kann bspw. eine Hochwasserkatastrophe zur Selbstorganisation anregen?* Weitere Frage: Wie sieht die Bewertung von kleinen Schritten aus?

APK unterscheidet sich grundlegend von nazistischer und bolschewistischer Kritik der Parlamente. FaschistInnen kritisieren, dass das Parlament zu Entscheidungen nicht fähig sei (also, dass das Führerprinzip nicht gilt), dass es eine "Quasselbude" sei. Vgl. dazu auch Carl Schmitt ... Die APK sieht hingegen das Parlament als undemokratisch an: es wird zu wenig frei diskutiert, zu viele Entscheidungen werden durch VertreterInnen getroffen!

Eine freiere Diskussion sichert eine (entscheidungs-) freiere Gesellschaft, das wurde und wird klar: es ist sehr wohl ein Unterschied zu erkennen zwischen Republik und Diktatur. So komme es manchmal zur Verteidigung der Republik durch AnarchistInnen: gegen den Kapp-Putsch riefen sie zuerst zum Generalstreik (ArbeiterInnenbewegung seit 1905 zum Massenstreik fähig) auf.

Die Bolschewiki lehnten Parlamente nicht grundsätzlich ab, sondern sahen eine Teilnahme an Parlamenten als eine taktische Frage an. Außerdem wollten sie das Parlament als "Bühne des Klassenkampfes" nutzen, um kommunistische Ideen zu verbreiten. So ähnlich haben - wenn auch mit anderen Ideen - übrigens die Grünen und andere "Protestparteien" auch mal angefangen ... - dies führt aber zu einer Anpassung an den Parlamentarismus. Die Bolschewiki lösten das 1918 das russische Parlament auch nur auf, weil sie entgegen ihrer Erwartung keine Mehrheit bekamen. AnarchistInnen hingegen lehnen (zumindest üblicherweise, M.) eine Teilnahme an Parlamenten grundsätzlich ab.

Im 19. Jhd. wurde das Parlament hauptsächlich als aus der bürgerlichen französischen Revolution hervorgegangene Form der Entscheidungsfindung kritisiert. Nach einer proletarischen Revolution sollten andere Formen der Entscheidungsfindung installiert werden. Diese wären dann wirklich demokratisch, da das Proletariat die gesellschaftliche Mehrheit sei. Es gab auch (z.B. durch Bakunin) eine Kritik am Paulskirchenparlament, da dieses eher ein Ort der "gemäßigten" Kräfte war, was sich u.a. daran zeigte, dass es dem König die Einigung Deutschlands antrug.

In der russischen Revolution von 1905 kam erstmals eine Diskussion um Selbstverwaltung in Form von Räten auf, als Alternative zur Duma. Seit 1917 bestanden in Russland ein Jahr lang (bis zur Oktoberrevolution) Räte als Parallelstruktur ... sie wurden dann aber von der bolschewistischen Partei dominiert, und die Parteidiktatur blieb übrig. In den 20er Jahren wurde diese Entwicklung von der internationalen ArbeiterInnenbewegung genau beobachtet. Es zeigte sich aber auch 1922 in Deutschland, dass die SPD die Räte alsbald dominieren konnte. Dennoch hielten viele AnarchistInnen an diesem Modell fest, da es authentisch aus der ArbeiterInnenbewegung hervorgegangen war.

Max Nettlau hingegen formulierte daraufhin eine anarchistische Kritik an der Rätestruktur: Diese bringt die Exekutive mit der Legislative zusammen - eine neue Machtkonzentration. Nettlau setzte sich hingegen dafür ein, die bürgerliche Gewaltenteilung zu forcieren. Weiter kritisiert Nettlau: Die Räte unterdrücken - in guter demokratischer Tradition (A. E.) - Minderheiten. Er sprach sich daher für Minderheitenrechte und Toleranz gegenüber anderen Strömungen aus. Ging es bei Nettlau noch hauptsächlich um Situationen, wo die AnarchistInnen in der Minderheit waren, wurde diese Prinzip später auch auf traditionell unterdrückte Gruppen ausgeweitet. Anzudenken wäre auch eine besondere Stellung der jeweils betroffenen Bevölkerung: So könnten die Flutbetroffenen über die konkrete Verwendung der Hilfsgelder selbst entscheiden.

Auch wurde im Laufe der Geschichte das Konsensmodell gegen das Mehrheitsmodell ins Spiel gebracht. Aber auch dieses kann autoritär genutzt werden - sei es, indem übergeordnete Gremien (z.B. Aufsichtsräte) ihre Entscheidungen im Konsens fällen; sei es, dass auch kleinste Minderheiten über die Mehrheit gestellt werden. Hier sind jedoch Mischlösungen denkbar.

Ein anderer - der anarchosyndikalistische, was nicht ausgesprochen wurde (A.E.) - Ansatz sieht die Zweiteilung der Räte als Lösung: der territorial organisierte Konsumptionsrat (Lokalföderation bzw. -börse) erhebt den Bedarf, der überregional nach Branchen organisierte Produktionsrat (Syndikat, Branchenföderation) erhebt die Produktionsmöglichkeiten und organisiert die Produktion. Die Distribution (Verteilung) könnte in einem Delegiertentreffen beider Räteorganisationen organisiert werden, oder in anderweitiger Kooperation zwischen Börse und Syndikat. Andererseits könnten die Räte auch auf eine Funktion als Statistikämter beschränkt bleiben. Da die Branchenföderationen eben nicht territorial organisiert sind, können sie auch der Gefahr entgegen wirken, dass sich die geschützten Minderheiten als nationale definieren und sich abschotten.

Es gibt für eine anarchistische Gesellschaft keine Garantie, deshalb ist immer darauf zu achten, die Degeneration der Modelle zu vermeiden. (Kronstadt, 1921: "Sowjets ohne Kommunisten!") Wichtig ist dafür auch, eine lokale Borniertheit zu durchbrechen - Rudolf Rocker schrieb in "Nationalismus und Kultur": die Vermischung von Kulturen brachte immer wichtige und fruchtbarste Zeiten menschlicher Entwicklung hervor. Daher ist es auch wichtig, dass es eine neben der lokalen auch eine nationenübergreifende, transnationale Ebene gibt. Gerade in Fragen der Solidarität und des Umweltschutzes sind keine nationalen oder regionalen Borniertheiten angebracht. Die sog. "Antiglobalisierungsbewegung" stellt in ihrer Transnationalität einen positiven Bezugspunkt dar.

Die APK kritisiert den Parlamentarismus als Form der indirekten Entscheidungsfindung, welche auf (politisch) aktiven ParlamentarierInnen und passiven WählerInnen beruht. Indem mensch wählt, gibt mensch dem die gewünschte Legitimation und die eigene Freiheit - zumindest teilweise - ab. Dem wird die direkte Entscheidungsfindung, z.B. über Nachbarschaftsversammlungen oder Räte entgegengestellt.

Auch wird der Zentralismus, selbst wenn er als Föderalismus daherkommt, abgelehnt. Dem wird der Lokalismus entgegengesetzt. Statt dass Bundesrecht Landesrecht und dieses Kommunalrecht bricht, sollte es lieber umgekehrt sein. Ohnehin sind die meisten übergeordneten Regelungen eher überflüssig und ließen sich viel besser zwischenmenschlich regeln. Voraussetzung dafür ist jedoch eine Wiederaneignung der Selbstorganisierungsfähigkeit. Wichtig für eine befreite Gesellschaft sind selbstbewusste, anarchistische Individuen. Allerdings bedarf es auch einer alternativen Sozialstruktur, um zu gewährleisten, dass nicht jedeR auf sich allein zurückgeworfen ist.

Die Grünen formulierten zu Beginn ihrer parlamentarischen Tätigkeit die Behauptung, das Parlament sei gewaltfreie Politik. In Wirklichkeit aber ist das Parlament Zentrum der Staatsgewalt. Hier wird z.B. über die Verteilung der Mittel für den Rüstungshaushalt, für Repressionsmaßnahmen etc. entschieden. Formuliert wurde seitens der Grünen auch eine "Doppelstrategie von Stand- und Spielbein". Das ist die Einstiegsideologie: eine soziale Bewegung erwirkt Veränderungen und braucht eben keine "eigenen" VertreterInnen. Auch die Beteiligung an Kommunalpolitik war erfahrungsgemäß immer nur eine Einstiegsdroge in den Parlamentarismus.

*Ausnahmesituationen sind immer schon gut gewesen, alte Klamotten (wie Kapitalismus und Fremdbestimmung) auf den Muellhaufen zu werfen. Beispielsweise funktionierte Selbstorganisation in den von der spanischen Republik dominierten Gebieten in den 30er Jahren.