FRANKFURT, 8. Mai Die folgende Darstellung über Zensur in Bibliotheken bezieht sich auf 32 öffentlich gewordene Fälle aus den Jahren 1976, 77 und 78. Sie ist einer Dokumentation entnommen, die zu beziehen ist über: (...) zu einem Unkostenbeitrag in Form von Briefmarken über DM l.60.
Bibliotheken gehören wie Presse, Rundfunk und Fernsehen zu den Einrichtungen, die in besonderem Masse öffentlicher Kritik ausgesetzt sind. Daher hat es gewisse Formen einer Zensur in Bibliotheken auch schon in der Vergangenheit gegeben, sei es durch einen "Wink" von höherer Seite oder sei es durch einen "sachlichen Hinweis" des Bibliotheksleiters an den untergebenen Bibliothekar. Selbstzensur der Bibliothekare ist aufgrund solcher Konflikte allerdings die Ausnahme gewesen.
Mit dem Inkrafttreten des 14. Strafrechtsänderungsgesetzes 1976 haben diese Fälle von Zensur jedoch eine ganz andere Dimension angenommen und erzielen wesentlich grössere Auswirkungen. Die Formen der Zensur sind zwar auch jetzt im allgemeinen noch recht subtil, dafür ist aber ihre Vielfalt grösser geworden. Der Bogen der Massnahmen spannt sich von der direkten Entfernung von Büchern aus dem Bestand über die Beschränkung der Ausleihrichtlinien für bestimmte Bücher bis hin zur Kontrolle der Buchanschaffungsprogramme durch übergeordnete Instanzen:
Bei den 32 Fällen, die in der Dokumentation aufgeführt sind, lassen sich die wichtigsten Arten von Zensur wie folgt kategorisieren:
1. ENTFERNUNG VON BÜCHERN AUS DEM BESTAND: Die Entfernung aus dem Bestand, also sowohl die Entfernung der Bücher aus den Regalen, als auch die Entfernung der dazugehörigen Katalogkarten bedeutet, dass das Buch als nicht mehr in der Bibliothek vorhanden gilt.
2. MAGAZINIEREN VON BÜCHERN: Das Buch wird von einem für die Benutzer frei zugänglichen Raum verlegt. Dies legt ihm zwei Hindernisse in den Weg. Zum einen muss er es über den Katalog aufstöbern, was er nur kann, wenn er den genauen Titel kennt (ein zufälliges Aufstöbern beim Entlanggehen am Regal wird unmöglich). Zum anderen muss er das begehrte Buch über einen Bibliotheksbediensteten anfordern, der es dann aus dem Magazin holt (Möglichkeit Ausleihrichtlinien wirksam werden zu lassen).
3. UMSTELLEN VON KINDER/JUGENDBÜCHERN IN DEN ERWACHSENENBESTAND: Dies ist eine sehr subtile Form der Zensur. Das Buch bleibt nämlich formal im Bestand. Es wird aber praktisch totgestellt. Denn da es sich um ein Kinder oder Jugendbuch handelt, wird es von Erwachsenen nicht verlangt. Kinder und Jugendliche aber kommen über Kataloge und Regale nicht mehr an es heran. Darüber hinaus liegen Kinder- und Jugendbüchereien meist auch in separaten Räumen.
4. ÜBERKLEBEN BZW. UNKENNTLICHMACHEN VON TEXT PASSAGEN IN BÜCHERN: Hierbei handelt es sich um eine Form der Zensur oder sogar der Selbstzensur, die sehr offen und plump ist. Sie wurde, soweit bekannt, bisher nur in Kinderbüchern vorgenommen, da man glaubt, Kindern eher so etwas zumuten zu können.
5. ERSCHWERUNG DER AUSLEIHE BZW. AUSLEIHBESCHRÄNKUNGEN DURCH RICHTLINIEN: Diese Zensurmassnahme besteht darin, magazinierte oder anders kenntlich gemachte Bücher entweder nur ganz bestimmten eingeschränkten Benutzern überhaupt auszuleihen oder aber zu versuchen, durch (subtile) Repression zu verhindern, dass Benutzer das Buch ausleihen. Auf jeden Fall wird hier ein Bibliothekar oder sonstiger Bibliotheksbediensteter als Kontrollinstanz zwischengeschoben.
6. VERBOT DER LITERATURANSCHAFFUNG DURCH VERWEIGERUNG DER GENEHMIGUNGSPFLICHT: Das Verbot der Literaturbeschaffung kann durch den Lektoratsleiter, den Bibliotheksleiter oder gar das zuständige Dezernat (Stadtstaaten: Senat) erfolgen, indem keine Genehmigung zur Anschaffung (oft formal begründet) gegeben wird.
7. KÜRZUNG DES BUCHBESCHAFFUNGSETATS: Ähnlich wie der vorhergehende Fall ist dieser gelagert, bloss wesentlich subtiler. Hier wird einfach der Buchanschaffungsetat gekürzt. Das bedeutet, dass die Bibliothek sich bei der Neuanschaffung auf die Ergänzung des sogenannten Grundbestandes beschränken muss und darüber hinaus nur noch Geld für sogenannte wesentliche Literatur hat, während dann hingegen für sogenannte kritische Literatur kein Geld mehr vorhanden ist.
8. ENTFERNUNG VON VERANSTALTUNGSPLAKATEN: Hierbei geht es um die Aufforderung zur Entfernung eines Plakates zu einer Dichterlesung bzw. um die übereilte Entfernung eines Werbeplakats aus einem Schaufenster einer Bibliothek, aus Angst vor Repressionen.
9. ENTFERNUNG VON AUSSTELLUNGSREGALEN MIT AKTUELLEN BÜCHERN: In solchen Ausstellungsregalen werden neue Bücher dem Bibliotheksbenutzer besonders angepriesen. Weil sich unter den aktuellen Taschenbüchern offensichtlich auch einige sogenannte linke oder kritische Bücher befunden haben, die damit quasi auf dem Präsentierteller lagen, wurde der gesamte Präsentierteller abgeschafft.
10. VERBOT (BZW. VERSUCH DES VERBOTS) VON LITERATURAUSSTELLUNGEN: Hier handelt es sich um Eingriffe meist Aussenstehender, denen bestimmte Werke oder auch ganze Ausstellungen, die zum normalen Veranstaltungsrahmen jeder Bibliothek gehören, nicht passen.
11. VERBOT VON DICHTERLESUNGEN: Ähnlich wie der vorhergehende Fall ist auch dieser gelagert. Hier spricht man sich gegen einen Dichter und seine Werke aus.
12. ANGRIFFE AUF TEXTSTELLEN IN BIBLIOTHEKSZEITUNGEN: Angriffe dieser Art reihen sich ein in die Angriffe gegen so manche sogenannten kritische Bücher, Schulbücher usw., aus denen man Texte herausstreichen will.
13. ALLGEMEINE BESTANDSKONTROLLEN: Dies ist eine sehr schwerwiegende Form des Eingriffs. Denn das Ergebnis solcher Kontrollen kann nicht nur zur Entfernung von Büchern aus dem Bestand führen, sondern kann ebenfalls zu Auswirkungen auf die Bibliothekare führen, die solche Bestände entweder angeschafft oder in ihrer Bibliothek zwecks Ausleihe dulden. Hiermit wird zugleich auch eine indirekte Art der Gesinnungsschnüffelei gegen Bibliothekare betrieben.
14. ALLGEMEINE VORZENSUR BEI DER ÖFFENTLICHKEITSARBEIT DER BIBLIOTHEKEN: Dies bedeutet konkret, dass der betreffende Bibliothekar alle Aktivitäten der Öffentlichkeitsarbeit (Ausstellungen, Veranstaltungen usw.) der zuständigen Kulturbehörde zur Genehmigung vorlegen muss. Jeder seiner Schritte in dieser Hinsicht wird also kontrolliert und zensiert, vorzensiert, um genauer zu sein.
15. ANGRIFFE AUF SOZIALBETREUUNG IN BIBLIOTHEKEN: Hierbei geht es um den Versuch, einen Sozialbetreuer aus einer Kinder- und Jugendbücherei zu entfernen, der dort türkische Kinder am Spätnachmittag betreut und über Spiele auch an die Literatur heranführt. Da man aber nicht weiss, was er den Kindern vermittelt, will die herrschende Kommunalfraktion ihn loswerden und das Programm einstellen.
Die Zahl der seit 1976 bekanntgewordenen Fälle, die im Zusammenhang mit den §§ 88a und 130a StGB zu bringen sind, hat schlagartig zugenommen. Die beiden genannten Paragraphen selbst haben sowohl in juristischer als auch in psychologischer Hinsicht einen sehr fruchtbaren Nährboden für reaktionäre Umtriebe geschaffen. Dass dabei vor allem sogenannte linke Literatur auf vielfältige Weise angeprangert und aus dem Verkehr gezogen wird, versteht sich. Aber der Kreis geht wesentlich weiter sowohl hinsichtlich der in Bibliotheken angegriffenen Literatur als auch hinsichtlich einer Reihe anderer Eingriffe.
Ausgehend von der Entstehungsgeschichte des 14. Strafrechts-änderungsgesetzes und der Rolle die dabei der Staatsschutz spielt, wundert es nicht, dass in seinem Vorfeld sich eine Gruppe der Reaktion an diese Sache heranmacht, bestehend aus devoten Beamten, Kritikastern und Tintenkulis, die wie Maulwürfe in letzter Zeit wieder aus ihren dunklen, muffigen Löchern hervorkriechen. Folglich sind es vor allem aussenstehende Stellen, die sich selbstgefällig in das Bibliothekswesen einmischen: Kommunalfraktionen, Senate/Dezernate, Professoren, Lehrer, aber auch konservativ erzogene Eltern.
Der Umfang dieser Zensurmassnahmen in letzter Zeit, als auch der direkt auf Bibliothekare ausgeübte Druck, hat inzwischen zu einer starken Verunsicherung bei den Bibliothekaren geführt. Um Konflikten aus nicht unberechtigter Angst vor weiteren Repressionen aus dem Weg zu gehen, greifen sie zur Selbstzensur, macht sich Duckmäusertum breit. Die Buchbestände beginnen sich "von selbst" zu säubern.
Nicht unerwähnt soll hier bleiben, dass sogar der Verband der Bibliothekare für den höheren Dienst an wissenschaftlichen Bibliotheken (VDB) auf seiner Jahrestagung 1976 in Münster aufgrund des 14. Strafrechtsänderungsgesetzes zur Selbstzensur aufgerufen hat: er empfahl, keine "Risiko-Bücher" mehr zu entleihen!
Seit der Novellierung des Gesetzes sind einige Fälle direkter Repression gegen Bibliotheksbeschäftigte im Zusammenhang mit der Zensur der Buchbestände und der sonstigen Bibliotheksarbeit bekanntgeworden. Alle Behauptungen, Bibliothekaren würde nichts geschehen, können also in den Wind geschrieben werden. Selbstverständlich geht es auch ihnen an den Kragen, ebenso wie Buchhändlern, Druckern, Verlegern, Autoren und Buchtransportunternehmungen.
- In Berlin ging man an der Amerika-Gedenkbibliothek gegen eine Bibliothekarin disziplinarisch durch den Bibliotheksleiter vor, weil sie die Presse auf die restriktiven Ausleihpraktiken und die Magazinierung von Beständen hingewiesen hatte.
- In Burgdorf bei Hannover ist einem Bibliothekar zur strikten Auflage gemacht worden, sich wegen jeglicher Öffentlichkeitsarbeit erst die Genehmigung der zuständigen Kulturbehörde einzuholen.
- In anderen Bibliotheken müssen die Buchanschaffungen genehmigt werden.
Jedoch auch dies ist noch nicht das Ende vom Lied. Bereits schaltet sich der Verfassungsschutz in das Bibliothekswesen ein. Allen auch noch so heftigen Dementis zum Trotz und trotz der Befürchtungen unmittelbarer Repressionen sind inzwischen einige Fälle derartiger Eingriffe bekanntgeworden. Die Methode dieser Gesinnungsschnüffelei durch den Verfassungsschutz besteht darin, das literarische Interesse bestimmter Personen zu erkunden, um daraus Rückschlüsse auf ihre Weltanschauung und ihre gesellschaftspolitische Grundhaltung zu ziehen.
Dies geschieht, indem der Verfassungsschutz eigenmächtig bzw. auch immer öfter bereits auf dem Wege einer offiziellen Amtshilfe (in einem Fall sogar mit tatkräftiger Unterstützung der Bibliothekare in einer solchen Bibliothek) sich in den Besitz sogeannter Ausleihlisten bringt, es handelt sich dabei also um die Verzeichnung der Literatur, die ein bestimmter Bibliothekenbenutzer in einem bestimmten Zeitraum bei einer bestimmten Bibliothek entliehen und wohl auch gelesen hat.
Aufgrund der zunehmenden Ausleihe durch elektronische Datenverarbeitung ist dies heute ein nicht mehr allzu grosses Beschaffungsproblem. Die Daten über Bibliotheksbenutzer und der von ihnen entliehenen Bücher werden über Lochstreifen oder Magnetband gespeichert und sind im allgemeinen über eine Computerzentrale abrufbar, die ausserhalb der Bibliothek (meist in einer Allgemeinverwaltung des Einzugsbereichs) steht. Weder kann die Bibliothek kontrollieren, wer Zugang zu den Daten hat, noch feststellen, ob nicht Kopien der Lochstreifen und Magnetbänder verfertigt werden, noch kann selbst die Einrichtung eines sogenannten Sperrcodes ausschalten, dennoch an das Material aus dem Bibliotheksbereich heranzukommen. Die Möglichkeiten des Erwerbs solcher Informationen (selbst ohne der leider immer mehr geleisteten Amtshilfe) sind sehr gross und durch datentechnische Manipulationen relativ leicht zu bewerkstelligen. Datenschutzgesetz und flankierende Massnahmen bieten dagegen keinen Schutz.
Aber auch dort, wo noch mit halbautomatischen Buchungsverfahren die Ausleihe vollzogen wird (meist als Fotoverbuchung: Name des Benutzers und die von ihm entliehenen Bücher werden zusammen fotografisch auf einem Film festgehalten) ist es nicht allzu schwer, an das Material heranzukommen. Die Entwendung solcher Filme und die Verfertigung von Abzügen oder gar Duplikaten ist im allgemeinen recht leicht zu bewerkstelligen.