Venezuela: Eine Chance für Veränderung

Interview mit René von der venezolanischen Zeitschrift El Libertario.

* Im Zuge der Wirtschaftskrise spitzt sich die Situation in Venezuela zu. Durch den Fall des Ölpreises stehen der Chávez-Regierung immer weniger Mittel für die Sozialprogramme, die ihr gerade in den armen Bevölkerungsschichten Popularität beschert haben, zur Verfügung. In letzter Zeit verschärfen sich die soziale Kämpfe, und auch die Repression nimmt zu. Ein deutliches Beispiel hierfür sind die Morde an Gewerkschaftern in den letzten Monaten. René, Gründungsmitglied des Redaktionskollektivs der libertären Zeitschrift El Libertario, beantwortete unsere Fragen.
ºº Kannst du uns kurz euer Zeitungsprojekt vorstellen?

René: El Libertario ist eine Zeitschrift, die in Venezuela seit 1995 erscheint, bisher gab es 56 Ausgaben. Wir informieren über anarchistische Theorie und Praxis in Lateinamerika und weltweit, außerdem berichten wir über libertäre Ansätze in den hiesigen sozialen Bewegungen. Wir erhalten keine Unterstützung von seiten des Staates oder von anderen Machtinstitutionen, wir wollen das auch nicht. Unser Projekt ist also zu 110% selbstverwaltet. Die Zeitschrift wird von einem Redaktionskollektiv herausgegeben, das ist eine Affinity Group, in die sich Menschen mit libertären Ansichten und Haltungen einbringen können. Wir arbeiten in einem Klima von gegenseitigem Respekt und Undogmatismus. Das zentrale Motiv, das uns vereint, ist, dass wir libertäre oder anarchistische Ideen teilen und eine Gesellschaft anstreben, die auf direkter Demokratie, sozialer Gerechtigkeit, Selbstverwaltung, gegenseitiger Hilfe und freier Assoziation ohne den autoritären Zwang durch Gewalt oder der Gesetze basiert. Mehr Details findet ihr auf unserer Website www.nodo50.org/ellibertario, dort finden sich auch deutschsprachige Texte.

ºº Wie ist die momentane Lage der libertären Bewegung in Venezuela?

René: Die libertäre Bewegung in Venezuela hat insgesamt eine viel kürzere Geschichte als in anderen Teilen der Welt. Das zeigt sich auch darin, dass El Libertario das einzige Sprachrohr der Bewegung ist, dank dem wir als AnarchistInnen eine gewisse Präsenz in Venezuela bekommen haben. Denn obwohl die libertäre Idee und Praxis unter uns nicht vollkommen unbekannt war, fängt man hierzulande erst jetzt an, das Spezifische des Anarchismus besser zu verstehen.

ºº Gibt es denn Schnittstellen zwischen der libertären Bewegung und konkreten sozialen Kämpfen?

René: Die Bemühungen, libertäre Ideen mit konkreten Kämpfen zu verbinden, sind relativ neu. Diese Bemühungen müssen zudem im Rahmen der speziellen Situation in Venezuela betrachtet werden, in der wir uns sowohl vom pseudo-linken Autoritarismus eines Hugo Chávez – der dieses Land seit 1999 regiert – als auch vom pseudo-demokratischen Autoritarismus seiner rechten und sozialdemokratischen Gegner abgrenzen müssen. Die zehn Jahre währende Polarisierung zwischen einer autoritären Regierung und einer autoritären Opposition bedeutete ein enormes Hindernis für unseren Einstieg in konkrete Kämpfe. Diese Kämpfe haben am Ende fast vollständig ihre Autonomie und ihre Eigenheiten verloren, als sie, der politischen Macht- und Wahlkämpfe der um die Kontrolle im Staat kämpfenden Gruppen ausgesetzt, von diesen vereinnahmt wurden. Trotzdem sehen wir mit Freude, dass es in den letzten zwei, drei Jahren immer mehr soziale Kämpfe gibt, die mit der politischen Kontrolle des Autoritarismus zu brechen suchen, was Raum für viel versprechende Verbindungen zwischen kollektiven Protesten und der libertären Bewegung schafft. Über sehr konkrete Beispiele für diese Verbindungen berichten wir in El Libertario seit 2006 oder 2007.

ºº Sind aus dieser Situation heraus libertäre Gewerkschaftsinitiativen erwachsen?

René: In Venezuela erschweren Gesetze und der institutionelle Rahmen die Bildung von libertären Gewerkschaften, wie die, welche in der IAA organisiert sind, ziemlich, denn gewerkschaftliche Aktivität wird hier von einer ganzen Reihe von Kontrollmechanismen beeinflusst. Diese haben bis jetzt jede anarchosyndikalistische Initiative, die die Prinzipien von Selbstverwaltung und direkter Aktion halbwegs konsequent umzusetzen versucht hat, im Keim erstickt. Nichtsdestotrotz haben anarchistische Ideen und Propaganda nicht aufgehört sich, und sei es nur in kleinem Maßstab, unter den konsequentesten GewerkschaftsaktivistInnen zu verbreiten, vor allem in letzter Zeit, wo die arbeiterfeindliche Offensive der Bosse und des Staates sich verschärft.

ºº Wie verhalten sich eigentlich die großen, mehrheitlichen Gewerkschaften in dem Spannungsfeld zwischen Chávez und der Opposition, das du vorher beschrieben hast?

René: Als erstes muss ich klarstellen, dass es in Venezuela keine einzige ”mehrheitliche” Gewerkschaftsorganisation gibt, weil die große Mehrheit der ArbeiterInnen überhaupt nicht organisiert ist. Da sowohl die Regierung als auch die Opposition diese Tatsache vertuschen wollen, ist es schwierig, seriöse Zahlen dazu zu finden, aber ich würde sagen, dass der Organisierungsgrad nicht über 15% liegt. Außerdem wird der geringe Organisierungsgrad noch durch Spaltungen erhöht. Der größte Arbeitgeber ist der Staat und in den Gewerkschaften sind hauptsächlich Staatsbedienstete organisiert, weil die Chávez-Regierung die Gründung von Scheingewerkschaften fördert, um so ihre eigene Macht als Staats-Arbeitgeber auszubauen. Nebenbei bemerkt, haben diese chavistischen Gewerkschaften, die in der Fuerza Bolivariana de Trabajadores (Bolivarianische Arbeitermacht) zusammengeschlossen sind, es trotz der Unterstützung von offizieller Seite und unverhohlenem Betrug zu ihren Gunsten nicht einmal geschafft, eine so große Präsenz in den Betrieben zu entfalten, wie vor 1999 die sozialdemokratische Confederación de Trabajadores de Venezuela (Konföderation der Arbeiter Venezuelas, CTV).

Die sozialdemokratische und rechte Opposition hat nichts anderes als die Regierung gemacht, indem auch sie versucht hat, die ArbeiterInnen für ihre politischen Interessen und im Wahlkampf zu instrumentalisieren. Rein auf die Arbeitswelt bezogene Forderungen haben diese Parteien auf unbestimmte Zeit verschoben. Die alte CTV, die bis in die 1990er Jahre beinahe die Gesamtheit der venezolanischen Gewerkschaftsbewegung repräsentiert hat, ist in den politischen Auseinandersetzungen des letzten Jahrzehnts dermaßen geschwächt worden, dass sie heutzutage nicht einmal das Scheitern der chavistischen Organisierungsversuche für sich nutzen kann. Durch ihre traditionelle Unterordnung unter die politischen Parteien, die zuvor regierten und jetzt die Opposition zu Chávez darstellen, bleibt sie schwach und kann kein eigenes Profil entwickeln.

ºº Siehst du dadurch eine Perspektive für die Entstehung von unabhängigen Basisgewerkschaften?

René: In einem derartigen Klima der Zersetzung dessen, was in Venezuela noch an gewerkschaftlicher Aktivität übrig ist, eröffnen sich tatsächlich Spielräume für das Auftreten eines unabhängigen Syndikalismus. Man kann auch nicht leugnen, dass es dafür bereits Indizien gibt, aber dennoch sind das bisher nur erste Schritte und es ist noch ein weiter Weg, bis wir hier von einer revolutionären syndikalistischen Option, die relativ konsolidiert wäre, reden können.

ºº Ihr habt ja in letzter Zeit in El Libertario von mehreren Morden an Arbeitern in Venezuela berichtet, wie der Fall der Mitsubishi-Arbeiter, die von der Polizei erschossen wurden. Nimmt die Repression gegen Arbeitskämpfe in Venezuela gerade zu?

René: Im angesprochenen Fall wurden zwei Kollegen Ende Januar 2009 von der ”sozialistischen und bolivarianischen” Polizei, die dem chavistischen Governeur im Bundesstaat Anzoátegui untersteht, erschossen. Dieser Fall wird – wie so oft in ähnlichen Situationen – von der staatlichen Propaganda entweder als Ausnahme, die nichts mit der Politik der Regierung zu tun habe, oder als Ergebnis der Provokation und Infiltierung durch Agenten ”der Rechten, des Imperialismus und der CIA”, die das schöne Bild des Chavismus zu beflecken versuchen, dargestellt. Aber, wie wir das ja detailliert in jüngeren Ausgaben des Libertario beschrieben haben, sind solche Fälle die Konsequenz der Anwendung der Strategie, die die aktuelle venezolanische Regierung verfolgt. Getreu ihrer Wurzeln im militaristischen Putsch und einer ideologischen Ausrichtung, die sich der Castro-Diktatur auf Kuba annähert, versucht die Regierung mit Zuckerbrot und Peitsche ein autoritäres Kontrollsystem über die venezolanische Gesellschaft zu errichten, und das hinter der Fassade eines angeblichen Sozialismus des 21. Jahrhunderts. All das tut die Regierung mit der vollständigen Unterstützung des transnationalen Kapitals, ihres Partners in der Erdölförderung, die von staatlich-privaten Mischkonzernen kontrolliert wird. Gerade jetzt in der Weltwirtschaftskrise hat die Regierung auch in Venezuela und trotz des Ölreichtums immer weniger Mittel, die Bevölkerung mit dem Zuckerbrot ruhig zu stellen. Deshalb kracht mit jeder neuen Maßnahme der ”Knüppel des Volkes”, den Bakunin als unvermeidbares Werkzeug aller autoritären Linken vorhergesehen hat, auf die Unterdrückten ein.

ºº Wie schätzt du die Zukunft und die Perspektiven für soziale Bewegungen und Arbeitskämpfe in Venezuela ein, gerade unter dem Eindruck der Wirtschaftskrise?

René: An dieser Stelle würde ich gerne ein paar Absätze aus dem Editorial des El Libertario # 56 zitieren:
”[…] Die Krise wird die Auseinandersetzungen zwischen den Mächtigen in den Hintergrund treten lassen, weil diese ihre Interessen miteinander vereinbaren werden, damit die Auswirkungen von unten bezahlt werden. Das Verblassen des polarisierenden Spektakels zwischen Regierung und Opposition wird uns Unterdrückten die Möglichkeit eröffnen, uns selbst im Kampf für unsere Rechte wieder zu finden, ohne dass der Kampf durch die selbst ernannten Stellvertreter, die wir im Fernsehen sehen, vereinnahmt wird. Dadurch werden wieder die wirklichen Interessengensätze und Trennlinien in der Gesellschaft deutlich werden. Entweder ergreift man Partei für Regierende, Bosse und Privilegierte oder für diejenigen, die alles zu gewinnen haben. In diesem Kontext wird die Regierung mit aggressiven Vorstößen versuchen, Kontrollmechanismen auszubauen und ihre Machtkonzentration zu erhöhen. Durch die Ausnutzung der Unsicherheit und des Zweifels, die durch das Debakel der Weltwirtschaft ausgelöst wurden, gibt der Vorwand der Krise ihr eine einmalige Gelegenheit, mit autoritären und regressiven Maßnahmen soziale, politische und Arbeitsrechte zurück zu drängen. Dennoch bietet dieser Vorstoß auch eine Chance für eine wirkliche und tiefgreifende Veränderung unserer Gesellschaft. Zu einer Gesellschaft hin, in der wir auf überflüssige Führer verzichten, und nach und nach eine breite, unabhängige, kämpferische und allgemeine soziale Bewegung aufbauen können, die sich von allen Parteien und anderen Machtinstrumenten abgrenzt. Indem wir die pseudo-revolutionären Betrügereien, die von der Chávez-Regierung eingeführt wurden, eine nach der anderen abschaffen und uns gleichzeitig den Einfluss und die Praxis der alten politischen Parteien entgegen stellen. Indem wir all die Faktoren überwinden, die unsere individuelle und kollektive Entwicklung ausbremsen, und indem wir Ideen entwickeln, und zwar nicht, um die Macht zu ergreifen, sondern damit diese sich im sozialen Geflecht auflöst. Indem wir Erfahrungen verbreiten und Initiativen bekannt machen, mit denen wir hier und heute eine andere Kultur aufbauen können. Indem wir horizontale und zwanglose Verbindungen und Brücken zwischen allen kämpfenden Bevölkerungsgruppen schlagen”

Vielen Dank für das Interview

Interview: Daniel Colm // Direkte Aktion 194 – Juli/August 2009

Interview mit der Zeitschrift „El Libertario“

* Sie ist eine der wenigen Publikationen in Venezuela, die ebenso kritisch über die Chávez-Regierung wie die reaktionäre Opposition berichten. Die Fragen wurden per Mail geschickt, die Redaktion antwortete als Kollektiv. Das Magazin gibt es seit 1995 und erscheint alle zwei Monate. Die aktuelle und ältere Ausgaben, sowie Übersetzungen von Artikeln in verschiedene Sprachen finden sich auf http://www.nodo50.org/ellibertario.
„Die demoralisierte traditionelle Linke entdeckt in ihrer Verzweiflung immer seltsamere Lichtgestalten“, schrieb Robert Kurz vor fünf Jahren über die Chávez-Begeisterung, die auch in der Zwischenzeit nicht abgeklungen ist. Um auch einmal kritische Stimmen aus dem Land zu hören, auf das die europäische Linke – gerne mit Verweis auf „basisdemokratische Bewegungen“ – am liebsten ihre Hoffnungen projiziert, wurde das folgende Interview mit der anarchistischen Zeitschrift „El Libertario“ aus Caracas, Venezuela, geführt. Sie ist eine der wenigen Publikationen in Venezuela, die ebenso kritisch über die Chávez-Regierung wie die reaktionäre Opposition berichten. Die Fragen wurden per Mail geschickt, die Redaktion antwortete als Kollektiv. Das Magazin gibt es seit 1995 und erscheint alle zwei Monate. Die aktuelle und ältere Ausgaben, sowie Übersetzungen von Artikeln in verschiedene Sprachen finden sich auf http://www.nodo50.org/ellibertario.

ºº Chávez erklärt gerne, dass die Privatmedien die Menschen manipulieren, korrupt seien und nur den kapitalistischen Klassenstandpunkt verbreiten. Er will deshalb „alternative Medien“ voranbringen. Was haltet ihr davon?

— Wie bei vielen seiner anderen Proklamationen, versteht es Chávez auch hier, eine Halbwahrheit auszusprechen. Zweifellos sind die privaten Medien im Grunde so, wie er sagt. Kein Zweifel aber auch, dass die staatlich kontrollierten Medien in Venezuela ausschließlich den Standpunkt des Caudillos und der ihm folgendenen „Boli-Burguesía“ (bolivarianische Bourgeoisie) verbreiten, dass sie durch bürokratische Zurichtung korrupt bis auf die Knochen sind und ebenfalls die Menschen manipulieren.

Bis auf sehr wenige Ausnahmen nehmen die angeblich „alternativen Medien“ kaum die Unruhen, Forderungen und Proteste auf, die in immer größerem Maße aus verschiedenen Bereichen der ausgegrenzten Bevölkerung aufsteigen. Denn in ihrer Nachrichtenlinie unterwerfen sich diese Medien fast alle der staatlichen Ausrichtung. Ihr Überleben hängt von der wirtschaftlichen Unterstützung durch die Regierung ab.

Die Situation ist inzwischen so paradox, dass viele marginalisierte Menschen ihre Proteste über die oppositionellen Privatmedien an die Öffentlichkeit tragen. Schließlich ist bekannt, dass sie damit niemals Raum in den sogenannten „Volksmedien“ (medios populares) finden würden. Dort hört man nur Propaganda des übelsten stalinistischen Stils, die die Wohltaten und Wunder der pseudo-„sozialistischen Revolution“ und ihres unübertrefflichen Caudillos verkündet.

Ein aktuelles und klares Beispiel für den Zustand dieser „alternativen Medien“ ist ihr Verhalten gegenüber Fälle offener staatlicher Aggression gegen soziale Bewegungen: Sie nehmen dazu weder Stellung, noch lassen sie zu, dass Stellung genommen wird. So geschehen bei den Inhaftierungen und manipulierten Gerichtsprozessen gegen den Gewerkschafter Rubén González (vom Staatsunternehmen Ferrominera Orinoco, im Süden des Landes) oder gegen den Indio Sabino Romero (ethnische Gruppe der Yukpa, in der Sierra de Perijá im Westen). Diese und andere Beispiele von Zensur und Informationsmanipulation rechtfertigen sie mit stumpfsinnigen Argumenten, etwa indem sie sagen: „Man kann nicht über Themen reden, mit denen man Argumente an die reaktionäre Opposition und an den imperialistischen Feind liefert“.

ºº „Das Volk“ (pueblo): Ist das eurer Absicht nach ein vernünftiger und emanzipatorischer Begriff? Wie ihn Chávez benutzt, scheint er eher ein Begriff der Unterdrückung zu sein.

— Wiederholt und öffentlich hat Chávez wissen lassen, dass seine Konzeption um den Begriff des „Volkes“ vom Werk des Argentiniers Norberto Ceresole stammt, der seinerseits klar und explizit vom italienischen Faschismus beeinflusst war. Deshalb ist es weder verwunderlich noch zufällig, dass wir in den Reden des „Comandante Presidente“ so viele Gemeinsamkeiten mit dem Geschwätz des „Duce“ erkennen. Selbstverständlich, dass sich solch irrationaler Wortschwall, übersetzt in einen grotesken und maßlosen Persönlichkeitskult, in Parolen wie „Vaterland, Sozialismus oder Tod!“, „Befehlen Sie, Comandante, befehlen Sie!“ oder „Hungrig, nackt und arbeitslos, ich halte zu Chávez!“, auf keinen Fall in eine emanzipatorische, vernünftige Praxis umwandeln kann.

In diesem Zusammenhang müssen wir auch erwähnen, wie von marxistisch-leninistischer Seite versuchte wurde, diese Demagogie zu rechtfertigen, durch den angeblich „einzigartigen Charakter der bolivarianischen Revolution“. Ganz zu schweigen von den Intellektuellen (inner- und außerhalb Venezuelas), die behaupten, diesen Prozess von einer linken Position aus zu unterstützen, aber gegenüber der unverhüllt autoritären Seite des Chávez-Regimes schändlich verstummen.

ºº Erfahrt ihr in der Redaktion Einschüchterungen oder Ähnliches von Anhängern Chávez (den Chávistas) oder direkt von der Regierung?

— Jeder, der wie wir vom „El Libertario“, in Venezuela Opposition, Nichtkonformität oder gar Störung gegenüber den anhaltenden Irrtümern, Lächerlichkeiten und Gewalttätigkeiten, die diese Regierung begeht, ausdrückt, wird sofort Opfer einer ganzen Reihe von Einschüchterungen durch diese Regierung und ihres Caudillos, der von seinen Regierten nur unterwürfigen Gehorsam akzeptiert. Bei den Übrigen handelt es sich um „Kontra-Revolutionäre“, denen gegenüber jede Art der autoritären Kontrolle, Einschüchterung und/oder Unterdrückung erlaubt ist.

In diesem Sinn haben auch wir im „El Libertario“ die wachsende staatliche Härte zu spüren bekommen. Diese richtet sich gegen jeden sozialen Protest in Venezuela und kriminalisiert Aktionen, die den allgemeinen Frust ausdrücken. Aktuell sind 2.400 Personen gerichtlichen Strafen unterworfen, weil sie ihr legitimes Recht auf Protest ausgeübt haben. Auch die übrigen Formen des Drucks und der Erpressung gegenüber Abweichler sind nicht zu vergessen, beispielsweise die „schwarzen Listen“, um Rechte von Personen, die als Staatsfeinde identifiziert wurden, einzuschränken.

ºº Gibt es in Venezuela weitere Medien wie den „El Libertario“, also solche, die nicht nur den Kapitalismus, sondern auch die aktuelle Regierung ablehnen?

— Bedauerlicherweise sind es sehr wenige, wegen den Schwierigkeiten, die die unabhängigen und radikalen Medien überwinden müssen, um überhaupt starten und sich dann am Leben erhalten zu können. Im venezolanischen Fall kommt noch eine starke Polarisierung hinzu, zwischen den staatlichen, pseudo-revolutionären und den oppositionellen – sozialdemokratischen und rechten – Medien. Da wir beide Gruppen als gleichermaßen negativen Ausdruck von Unterdrückung, Ausbeutung und Ungerechtigkeit angreifen, haben wir zweifellos eine sehr schwierige, aber unerlässliche Aufgabe.

Diese Aufgabe beinhaltet auch, klarzustellen, dass die Chávez-Regierung in keiner Weise antikapitalistisch ist, wie die Fragestellung zu suggerieren scheint. Denn sie ist, unter anderem, vollkommen dem nachgekommen, wofür sich die Globalisierung in Venezuela interessiert: Aus dem Land einen sicheren, untertänigen und zuverlässigen Lieferer von Energieressourcen zu machen. Die Kontrolle über diese Ressourcen wird durch sogenannte gemischte Unternehmen (empresas mixtas) an das internationale Großkapital abgegeben. Man kann eine Regierung außerdem nicht antikapitalistisch nennen, die ihre Auseinandersetzungen mit der hiesigen Bourgeoisie geführt hat, um eine andere Gruppe, die Boli-Bourgeoisie, zu begünstigen, deren Präsenz und Macht heute unübersehbar ist.

ºº Was haltet ihr von der Ideologie von Linken wie Noam Chomsky, Richard Gott oder Tareq Ali, die Chávez und seinen „Prozess“ verehren zu scheinen?

— Die umfassendste und treffendste Antwort auf diese Frage gab der Artikel „Chomsky, Hofnarr von Chávez“ von unserem Genossen Octavio Alberola, veröffentlicht in der Nummer 57 von „El Libertario“ (aus dem Jahr 2009). Der Artikel wurde in verschiedene Sprachen, nicht aber ins Deutsche übersetzt. Daraus zitieren wir:

„Im Gegensatz zur Meinung vieler Menschen, ist die Fähigkeit, Lügen zu glauben und blind eine Fiktion zu akzeptieren, so fantastisch und grotesk diese auch sei, keine Eigenschaft von Dummköpfen und Ignoranten. Der berühmte Essayist Noam Chomsky hat uns eben erst gezeigt, dass auch kultivierte, intelligente und scharfsinnige Intellektuelle leichtgläubig werden und politische Führungen akzeptieren können, die ganz offensichtlich demagogisch, trügerisch und autoritär sind.

Natürlich ist es nichts neues, einen Intellektuellen hohen Ranges in einen solchen Widerspruch geraten zu sehen. Schon in der Sowjetunion und dem maostischen China hatten wir das irrationale Phänomen der „reisenden Genossen“. Diese Intellektuellen, die – viele von ihnen im guten Glauben – an die Errichtung des „Sozialismus“ und der Erschaffung des „neuen Menschen“ in diesen Ländern glaubten, bis die Tatsachen sie zwangen, den wirklichen Charakter dieser Regime zur Kenntnis zu nehmen. Doch auch wenn diese Irregeleiteten in vielen Fällen nicht von der Suche nach irgendeiner Art von Belohnung motiviert und aufrichtig scheinen, ist es natürlich, nach dem Warum und dem Wie solchen Verhaltens zu fragen. Die einfachste Erklärung wäre, dass es einer ideologischen Verblendung geschuldet sei, welche kein Mensch – auch nicht der rationalste – andauernd verhindern kann. Doch im Fall Chomsky ist es unmöglich zu vergessen, dass er es war, der solche Verblendungen in der Vergangenheit bekämpft hatte.“

ºº Abgesehen von eurer Zeitung: Gibt es in Caracas oder Venezuela Bewegungen, die gleichermaßen die staatliche wie ökonomische Unterdrückung beenden wollen?

— Es gibt sowohl im Land wie in der Hauptstadt verschiedene Gruppen und Aktivisten, die sowohl den Kapitalismus wie den staatlichen Autoritarismus bekämpfen. Beispielsweise jene, die sich im Netzwerk „Aufständische“ (Insurgentes) oder der Kampagne für die Verteidigung des Rechts auf den Sozialen Protest (Campaña por la Defensa al Derecho a la Protesta Social) zusammengeschlossen haben (El Libertario nimmt an beiden Initiativen teil). In dem Maße, wie die autonomen Kämpfe in Venezuela sich verstärken, wie es in den letzten beiden Jahren der Fall war, eröffnet sich die Möglichkeit, dass diese strategische Ausrichtung der Kurs wird, den die sozialen Bewegungen nehmen werden, die bisher durch die Staats- oder Kapitalmacht kontrolliert wurden.

ºº Spielen die venzeolanischen Studenten eine Rolle – und wenn ja, welche?

— Der studentische Aktivismus schien vor zwei oder drei Jahren Zeichen der Wiederbelebung und des Kampfgeistes zu senden. Aber bedauerlicherweise wurde dieser Aktivismus Opfer einer Unterwerfung unter jene Fraktionen, die um die Macht kämpfen – sei es der regierende Chávismo oder seine sozialdemokratischen oder rechten Gegner. Diese widerstreitenden politischen Gruppen haben alles getan, um das zu liquidieren, was das Erwachen der autonomen Aktion der studentischen Bewegung zu sein schien, so dass sich dort nun die gleichen Politiker- und Wahlkampfspiele abspielen, wie sie die nationale Bühne beherrschen.

ºº Welche anderen gesellschaftlichen Gruppen könnten eine wichtige Rolle bei den Protesten spielen?

— Wie schon aufgezeigt, hat in den letzten beiden Jahren eine bedeutsame Wiederaufnahme des sozialen Protests in Venezuela stattgefunden. Hervorzuheben ist dies nicht bloß, weil die Zahl der Demonstrationen beträchtlich gestiegen ist, sondern auch, weil die Demonstrationen eine Tendenz ausdrücken, mit der Kontrolle zu brechen, die die Regierungsparteien und die Opposition über die sozialen Bewegungen ausgeübt haben.

Wir beginnen zu beobachten, wie sich in verschiedenen Gruppen der unterdrückten und ausgebeuteten Bevölkerung (Arbeiter, Indios, Frauen, Bewohner der armen Barrios, Rentner, obdachlose Familien, Bezieher öffentlicher Dienstleistungen, etc.) zunehmend Ausdrucksformen des Kampfes äußern. Darauf haben die Mächtigen geantwortet, indem sie versucht haben, diese Gruppen durch demagogische Wahlversprechen zu täuschen. Oder kriminalisierten die Konflikte und gingen repressiv vor. Für letzteres wird in Venezuela auf eine groteske Sprache aus dem Kalten Krieg zurückgegriffen: Jeder Protest des Volkes wird als „imperialistische Manipulation“ bezeichnet, als „Komplott der CIA“ oder ihm wird vorgeworfen „der rechten Reaktion in die Hände zu spielen“.

Trotz solcher Erpressungen erwarten wir, dass der autonome soziale Protest weiter wachsen wird, denn weder diese autoritäre, korrupte, inkompetente und opportunistische Regierung, noch ihre sozialdemokratischen und rechten Gegner, die von ähnlichem Schlag sind, haben eine wirkliche Antwort auf die tiefe Krise, die die venezolanische Gesellschaft heute erleidet.

ºº Wollt ihr sonst noch etwas loswerden?

— Nur ein Danke an den „Letzten Hype“ http://letzterhieb.blogsport.de, der uns mit diesem Interview Leute erreichen lässt, die – sei es wegen der Sprache, der Entfernung oder der Unwissenheit über die venezolanische Situation – sehr wahrscheinlich keinen Zugang zu den Standpunkten haben, die unsere Publikation vertritt. Wir wollen mit den tendenziösen Interpretationen der großen Privatmedien der eaktionären Rechten ebenso brechen wie mit der Propaganda der tradionellen, autoritären Linken mit ihrer bedingungslosen Rechtfertigung von allem, was Chávez tut.

Außerdem möchten wir einladen, die folgenden deutschen Texte zu lesen, die unter der Sektion „other lenguages“ auf unserer Homepage www.nodo50.org/ellibertario verfügbar sind:

– Venezuela: Eine Revolution mit einem Kadaver im Mund
– Wir brauchen keinen weiteren Krieg
– Den Tauben predigen: Chavismus und Anarchismus in Venezuela
– Der Sender RCTV und die angebliche Demokratisierung der Kommunikation
– Hugo Chavez aus der Sicht venezolanischer AnarchistInnen
– Depolarisierung und Autonomie : Herausforderungen Venezuelas zu den
Sozialbewegungen nach D-3
– Wer genau hinsieht, sieht keine Revolution: Anarchistische Perspektive
der „Bolivarianischen Revolution“ in Venezuela
– Libertäre Erklärung von Caracas // 29. Januar 2006
– Venezuela: Eine folgerichtige Antwort auf wiederholte Fragen

Interview und Übersetzung: Sebastian Loschert

Kubas Einheitsgewerkschaft verrät die ArbeiterInnen

Gemeinsames Communiqué des Movimiento Libertario Cubano und der Unterstützungsgruppe für Libertäre und unabhängige GewerkschafterInnen in Kuba

Am 13. September veröffentlichte die „Granma“, das offizielle Organ der kubanischen kommunistischen Partei, eine Erklärung [1] der einzigen offiziellen Gewerkschaft „Central de Trabajadores de Cuba“ (CTC). Darin rechtfertigt und verteidigt sie die Maßnahmen der kubanischen Regierung, die zwecks „Modernisierung des ökonomischen Modells“ und angesichts „der ökonomischen Voraussagen für die Periode 2011 bis 2015“ vorsieht, dass im nächsten Jahr über 500.000 ArbeiterInnen aus dem Staatsdienst in den privaten Sektor überführt werden sollen.

Die sicher nicht zufällige Antwort von Fidel Castro auf die Frage eines amerikanischen Journalisten, dass „das kubanische Modell nicht funktioniert, nicht einmal in Kuba“, und die beschämte und zynische Rechtfertigung der Entlassung einer halben Million ArbeiterInnen – eine einsame Entscheidung der Regierung unter Präsident/General Raúl Castro – seitens der CTC eigt zeindeutig, dass die Castro-Brüder zwar vom Sozialismus Abschied nehmen, aber nicht von der Macht. Um diese zu erhalten, sind sie sogar zu einer Wirtschaftspolitik des nackten Kapitalismus bereit.

Der Moment ist gekommen, die, die weiterhin dem naiven Glauben anhängen, dass das Castro-Regime eine sozialistische Revolution macht und die CTC die Rechte der kubanischen ArbeiterInnen verteidigt, mit der harschen Realität zu konfrontieren. Wir hoffen, dass sie angesichts dieser Realität bemerken, dass Castros „Sozialismus“ nichts weiter als Staatskapitalismus ist, und die CTC eine gelbe Gewerkschaft im Dienst der herrschenden Klasse.

Dieser neue Verrat der castristischen Gewerkschaftsführung überrascht uns nicht. Seit vielen Jahren verurteilen wir diese Gewerkschaftsfarce, unter der die kubanischen ArbeiterInnen leiden müssen. Nun zeigt sich ihre wahre Rolle – die kubanische Arbeiterklasse zu kontrollieren -, und entlarvt ihre groteske revolutionäre Demagogie. Die kubanischen ArbeiterInnen reagieren mit zornigen Anklagen [2] und verleihen ihrer Enttäuschung und Ablehnung der Staatsgewerkschaft als Instrument der Herrschenden laut Ausdruck.

Für eine autonome, unabhängige und kämpferische Arbeiterbewegung im Dienst der kubanischen ArbeiterInnen!

Für libertären Sozialismus!

Für ein freies und libertäres Kuba!

September 2010
MLC (Movimiento Libertario Cubano) (Cuban Libertarian Movement)
GALSIC (Grupo de Apoyo a los Libertarios y Sindicalistas Independientes en
Cuba) (Support Group for Libertarians and Independent Sindicalists of
Cuba)

[1] http://www.kaosenlared.net/noticia/pronunciamiento-central-trabajadores-cuba-propoposito-cambios-cuba
[2] http://www.kaosenlared.net/noticia/dudas-sobre-medio-millon-cubanos

Gegen linke Bewusstlosigkeit!

Gegen linke Bewusst­lo­sig­keit – für einen kon­se­quen­ten Antifaschismus!

Eine Bedin­gung wird sich für die Linke nie ändern: Wenn sie alle Ver­hält­nisse umwer­fen will, in denen der Mensch ein ernied­rig­tes, ein geknech­te­tes, ein ver­las­se­nes, ein ver­ächt­li­ches Wesen ist (Marx), wenn sie also Eman­zi­pa­tion und eine befreite Gesell­schaft will – dann braucht sie zwar vor allem eine radi­kale Kri­tik die­ser Ver­hält­nisse, aber kommt dabei nicht um deren aktu­elle Beschaf­fen­heit herum. Die Aus­gangs­lage für den Kampf um eine befreite Gesell­schaft ändert sich stän­dig, ihm kom­men zu unter­schied­li­chen Zei­ten und Orten unter­schied­li­che Gegen­be­we­gun­gen, Pro­bleme und Chan­cen ent­ge­gen. So ste­hen etwa Faschis­mus, Wirt­schafts­wun­der oder Krise für sehr ver­schie­dene Aus­gangs­la­gen, die stets auch ver­schie­dene Gegen­stra­te­gien erfor­dern.

Aktu­ell gibt es jedoch eine welt­weite, eine rechts­ra­di­kale Bewe­gung, von der Linke über­all eigent­lich ihre Aus­gangs­lage bedroht sehen müss­ten – doch wofür ein gro­ßer Teil der Lin­ken, ob bür­ger­lich oder radi­kal, alles andere als ange­mes­se­nes Bewusst­sein zeigt: Näm­lich der Isla­mis­mus. In sehr unter­schied­li­chen Aus­prä­gun­gen bemüht er sich mit einer fun­da­men­ta­lis­ti­schen Aus­le­gung des Islam um eine poli­ti­sche Ord­nung der Gesell­schaft. Ein abso­lu­ter Über­le­gen­heits­an­spruch wird expan­siv in die Tat umge­setzt – geprägt durch Anti­mo­der­nis­mus, Auto­ri­tät und Ressentiment.

Dar­auf folgt jedoch kaum eine eman­zi­pa­to­ri­sche Kri­tik des Isla­mis­mus. Statt­des­sen neh­men in west­li­chen Gesell­schaf­ten natio­na­lis­ti­sche, rechts­po­pu­lis­ti­sche und ras­sis­ti­sche Ten­den­zen zu – wäh­rend die Linke dabei meist darin ver­haf­tet bleibt, nur gegen die ihr so gewohn­ten Geg­ne­rIn­nen zu mobi­li­sie­ren. Es ist ein Span­nungs­ver­hält­nis zwi­schen Ras­sis­mus und Isla­mis­mus ent­stan­den, das Linke nur sel­ten rich­tig auf­lö­sen: Bei­des als ihre aktu­elle Gegen­be­we­gun­gen und damit bei­des als ihr Pro­blem zu ver­ste­hen. Gerade, weil wir mit der ein­gangs beschrie­be­nen Per­spek­tive selbst Teil der Lin­ken sind, rufen wir hier zu einem Ende die­ser Bewusst­lo­sig­keit und zu einem kon­se­quen­ten Anti­fa­schis­mus auf.

Die anti­fa­schis­ti­sche Kri­tik des Isla­mis­mus geht dabei über eine – eben­falls not­wendige – pau­schale Kri­tik aller Reli­gio­nen hin­aus. Sei es Chris­ten­tum, Bud­dhis­mus oder eben der Islam: Denn deren „ein­fa­cher“ Glaube ist zwar Irr­sinn und steht wirk­li­cher Eman­zi­pa­tion im Weg. Aber solange Men­schen damit nur ihr eige­nes Leben ein­schrän­ken und andere Vor­stel­lun­gen zulas­sen, stel­len sich einer Lin­ken heute grö­ßere Pro­bleme. Anders ist das bei christ­li­chem Fun­da­men­ta­lis­mus, der selbst­ver­ständ­lich als Pro­blem wahr­ge­nom­men wird. Bru­tale Glau­bens­kriege, anti­eman­zi­pa­to­ri­sche Moral­vor­stel­lun­gen und Fort­schritts­feind­lich­keit mit dem Anspruch auf gesell­schaft­li­che Gül­tig­keit sind – völ­lig zu Recht – schon lange im Fokus lin­ker Kri­tik und Pra­xis ange­kom­men. Doch was somit bei wahn­sin­ni­gen Evan­ge­li­ka­len noch zum guten Ton bür­ger­li­cher und radi­ka­ler Lin­ker gehört, wen­det sich mit Blick auf die Hamas oder das ira­ni­sche Regime meist in Schwei­gen, Akzep­tanz oder gar Verständnis.

Das ist absurd, drängt sich doch der Isla­mis­mus als Geg­ner der Lin­ken gera­dezu auf. Geprägt durch enor­men Auto­ri­ta­ris­mus, Sexis­mus und Anti­se­mi­tis­mus wird hier reli­giö­ser Fun­da­men­ta­lis­mus als Gesellschafts-​​ordnung durch­ge­setzt – gewalt­sam gegen Unpas­sende und Anders­den­kende. Was sich sehr wahr­nehm­bar und öffentlichkeits-​​wirksam äußert: Von rigo­ro­sen Vor­schrif­ten für all­täg­li­ches Leben, über die Hin­rich­tun­gen Homo­se­xu­el­ler bis hin zum mör­de­ri­schen Ter­ror gegen „Ungläu­bige“. So ver­nei­nen isla­mis­ti­sche Staa­ten und Bewe­gun­gen das linke Pro­jekt einer befrei­ten Gesell­schaft mit außer­or­dent­li­cher Bru­ta­li­tät und Voll­stän­dig­keit. Sie sind fak­tisch rechts­ra­di­kal, und eine Linke, die das nicht als Angriff auf die eige­nen Ziele wahr­nimmt, gibt ihren eman­zi­pa­to­ri­schen Anspruch preis und offen­bart poli­ti­sche Bewusstlosigkeit.

Doch genau das ist in der akti­ven Lin­ken allzu oft Rea­li­tät. Direkte und indi­rekte Dul­dung von Isla­mis­tIn­nen und sogar offene Zusam­men­ar­beit erschei­nen nicht als Pro­blem und haben gerade in den letz­ten Mona­ten Kon­junk­tur. So hat­ten viele Linke aus ganz Europa kei­ner­lei Beden­ken, mit isla­mis­ti­schen Orga­ni­sa­tio­nen an Bord der Gaza-​​Flotille die Ver­bin­dung von Anti­zio­nis­mus und Anti­se­mi­tis­mus ein­zu­ge­hen. Gleich­zei­tig wer­den Hamas und His­bol­lah von der bekann­ten lin­ken Femi­nis­tin Judith But­ler als Teil der glo­ba­len Lin­ken aner­kannt – wäh­rend pas­send dazu Isla­mis­tIn­nen mit Sym­bo­len der Hamas auf lin­ken Anti-​​Kriegsdemos mit­lau­fen. Und auch in der Debatte zu anti­mus­li­mi­schem Ras­sis­mus glau­ben viele Anti­rass­ti­In­nen offen­bar nach wie vor, neben Isla­mis­tIn­nen wie Millî Görüş in Gesprächs­run­den sit­zen oder auf der Straße demons­trie­ren zu müs­sen. Auch wenn sol­che Koope­ra­tio­nen nur punk­tu­ell sind und es dabei gele­gent­lich Dis­tan­zie­run­gen zu allzu deut­li­chem Fun­da­men­ta­lis­mus gibt – Pro­blem­be­wusst­sein sieht anders aus.

Diese Bewusst­lo­sig­keit ist nicht neu. Sie speist sich aus einem Schwarz-​​Weiß-​​Denken das in der Lin­ken, ob bür­ger­lich oder radi­kal, nach wie vor ver­brei­tet ist und sich vor allem anhand einer Auf­tei­lung zeigt: Der zwi­schen „schlech­ten Unter­drü­ckern“ und „guten Unter­drück­ten“. Dem ein­fa­chen Bild von Impe­ria­lis­ten mit unmensch­li­chen Vor­ha­ben auf der einen Seite und ihren Opfern mit mensch­li­chen Abwehr­re­ak­tio­nen auf der ande­ren Seite folgt die Wahr­neh­mung von mäch­ti­gen und ein­deu­ti­gen Fein­den (in der Regel die USA), deren Geg­ner im Umkehr­schluss Soli­da­ri­tät oder zumin­dest Aner­ken­nung ver­dient hät­ten. Das ist schlicht falsch.

Selbst­ver­ständ­lich han­delt die USA nicht im Sinne einer befrei­ten Gesell­schaft und steht ihr wie jeder andere bür­ger­li­che, kapi­ta­lis­ti­sche Natio­nal­staat ent­ge­gen. Stand­ort­in­ter­es­sen sind gerade im „Kampf gegen den Ter­ror“ wich­ti­ger als mensch­li­che Inter­es­sen und dar­über hin­aus betrei­ben die west­li­chen Gesell­schaf­ten eine ras­sis­ti­sche Abschot­tung gegen den ärme­ren Rest der Welt. Das geschieht mit gro­ßer Gewalt, küm­mert sich wenig um Men­schen­le­ben und noch weni­ger um die Per­spek­tive auf eine befreite Gesell­schaft. Gleich­zei­tig ent­wi­ckeln sich Natio­na­lis­mus, Rechts­po­pu­lis­mus und anti­mus­li­mi­scher Ras­sis­mus immer mehr als gesell­schaft­li­che Aggres­sio­nen gegen alles, was mit Unbe­ha­gen und Empö­rung als isla­misch und damit als äußer­lich und unpas­send wahr­ge­nom­men wird. Diese Ent­wick­lun­gen müs­sen beim Thema Isla­mis­mus unbe­dingt mit­ge­dacht wer­den, was von Lin­ken seit Jah­ren auch inten­siv in die Pra­xis umge­setzt wird.

Aller­dings nur mit ver­hal­te­nem Erfolg, was sich etwa an den „Inte­gra­ti­ons­de­bat­ten“ able­sen lässt: Einer­seits sind offe­ner Natio­na­lis­mus und Ras­sis­mus mit der Sorge um natio­nale Iden­ti­tät und Arbeits­plätze – und eben nicht in Sorge um die Opfer isla­mis­ti­schen Ter­rors – voll­kom­men salon­fä­hig. Ande­rer­seits blei­ben linke Reak­tio­nen dar­auf meist bei der Wer­bung für all­ge­mei­nen Mul­ti­kul­tu­ra­lis­mus ste­hen. Die wird jedoch nicht nur umge­hend vom Popu­lis­mus der Natio­na­lis­tIn­nen kas­siert, son­dern ist vor allem auch unkri­tisch. Denn wer Auto­ri­ta­ris­mus, Sexis­mus und Anti­se­mi­tis­mus, sei es im Gaza-​​Streifen oder in den „Pro­blem­vier­teln“ Euro­pas, als Teil einer kul­tu­rel­len Iden­ti­tät abhakt, ver­dop­pelt ras­sis­ti­sche Zuschrei­bun­gen und lie­fert die Eman­zi­pa­tion der Belie­big­keit aus.

So ver­wehrt sich ein gro­ßer Teil der Lin­ken wei­ter der Tat­sa­che, dass eine isla­mis­ti­sche Ord­nung des Zusam­men­le­bens der Men­schen einen Rück­fall bedeu­tet – selbst hin­ter Maß­stäbe bür­ger­li­cher Gesell­schaf­ten. Und dass das Pro­jekt einer befrei­ten Gesell­schaft die Hamas oder das ira­ni­sche Regime als rechts­ra­di­kale Akteure feind­lich gegen­über ste­hen hat – die von Lin­ken auch dem­ent­spre­chend kon­se­quent behan­delt wer­den müs­sen: antifaschistisch.

Doch momen­tan wird beharr­lich die eigene Aus­gangs­lage im Kampf um eine befreite Gesell­schaft igno­riert. Wäh­rend die Linke bei all ihren Unter­schie­den immer einen anti­fa­schis­ti­schen Anspruch hatte, fehlt nun allzu oft die Bereit­schaft, die­sen Anspruch an eine ver­än­derte Aus­gangs­lage anzu­pas­sen. Lin­ker Anti­fa­schis­mus war fast immer dar­auf gerich­tet, einen rechts­ra­di­ka­len Rück­fall hin­ter die Ver­hält­nisse und in die Bar­ba­rei zu ver­hin­dern – oder zu bekämp­fen. Anti­fa­schis­mus ist inso­fern etwas ande­res als der Kampf für eine befreite Gesell­schaft. Es ist der Kampf dage­gen, sich diese Per­spek­tive von Faschis­tIn­nen ver­stel­len zu las­sen. Aber eben diese Per­spek­tive wird von isla­mis­ti­schen Regi­men, Bewe­gun­gen und Orga­ni­sa­tio­nen täg­lich neu begra­ben – zusam­men mit den all­täg­li­chen Zie­len ihrer Angriffe wie Frauen, Anders­den­ken­den, Jüdin­nen und Juden, Homo­se­xu­el­len und „Ungläu­bi­gen“, die von der Lin­ken bis­her kaum Beach­tung fan­den. Diese Bewusst­lo­sig­keit muss ein Ende haben, neben Neo­na­zis und ande­ren Ras­sis­tIn­nen muss auch der Isla­mis­mus ins anti­fa­schis­ti­sche Visier der Lin­ken genom­men werden.

Natür­lich ist diese Pra­xis nicht nur unge­wohn­ter, son­dern auch kom­pli­zier­ter als der Kampf gegen Neo­na­zis. Etwa wegen der Frage, wo „nor­ma­ler“ reli­giö­ser Irr­sinn auf­hört und Isla­mis­mus anfängt, und weil Neo­na­zis im poli­ti­schen All­tag leich­ter aus­zu­ma­chen sind als Isla­mis­tIn­nen. Aber Anti­fa­schis­tIn­nen, die viele Infor­ma­tio­nen über Neo­na­zis recher­chie­ren und hun­derte Kilo­me­ter zu deren Auf­mär­schen fah­ren, könn­ten auch isla­mis­ti­sche Paro­len erken­nen, isla­mis­ti­sche Sym­bole iden­ti­fi­zie­ren und zumin­dest nicht mit Isla­mis­tIn­nen zusammenarbeiten.

Die Linke sollte in einem anti­fa­schis­ti­schen Kampf gegen den Isla­mis­mus bestim­mend sein. Wäh­rend das wohl nicht so schnell zu haben ist, wäre aber der drän­gendste Schritt auch der ein­fachste: Keine Zusam­men­ar­beit mit Isla­mis­tIn­nen, keine Dul­dung und keine Akzep­tanz! Isla­mis­mus ist kein Teil der Lösung – son­dern Teil des Pro­blems: Gegen linke Bewusst­lo­sig­keit und für einen kon­se­quen­ten Antifaschismus!

auto­nome antifa [f] bzw. alle Unterstützer_​innen die­ses Auf­rufs, Herbst 2010

Was ist mit uns Ungläubigen?

Der Bundespräsident meint in seiner umstrittenen Bremer Ansprache zum Nationalfeiertag 3. Oktober 2010 wörtlich: „Der Islam gehört inzwischen auch zu Deutschland“. Daraufhin verfassen Henryk M. Broder und Reinhard Mohr einen offenen Brief an den gottgläubigen Christian Wulf. Darin fragen sie: „Was ist mit uns Ungläubigen und Agnostikern, uns ewigen Zweiflern, Kritikastern und Rotweintrinkern? Gehören wir auch dazu? Sind Sie auch unser Bundespräsident, womöglich mit derselben „Leidenschaft“, mit der Sie Präsident aller Muslime sind? Und worin würde sich diese Leidenschaft dann offenbaren?“ Wer sich gerne alles komplett durchlesen möchte: Offener Brief an den Bundespräsidenten. Auch Michael Schmidt-Salomon macht sich Gedanken über das Nicht-Erwähnen der Konfessionslosen.
Hunde und Schweine sind im Islam nicht sehr angesehen. Foto: Schwarze Katze.