Leere Formen
Freiraum Nr. 25, Herbst 96
anarchistische Zeitung

Nach sehr langem Auslandsaufenthalt befinde ich mich nun seit ein paar Jahren wieder in Big-Germany. Seit ein paar Jahren versuche ich über die Szenezeitungen die Inhalte der Politszene, spezifisch der antiautoritären-anarchistischen Szene zu verstehen und nachzuvollziehen. Es wurde mir sehr schnell klar, dass im Ausland ein ziemlich falsches Bild der deutschen Gesamtszene vorhanden ist.

Die Bilder, die mich im Ausland erreichten, bezogen sich meistens auf die Knastkämpfe, Hafenstraße, Mainzerstraße, Anti-AKW-Kämpfe usw., und oft blickten wir im Ausland wohlwollend auf die Szene in Deutschland, die den Eindruck vermittelte, genau zu wissen, was sie tut, und den konkreten Versuch, die Bedingungen dieser Gesellschaft zu ändern, folgte. Um so überraschter und sprachlos war ich, als mir die tatsächliche Realität klar wurde..

Seit meiner Rückkehr nach Deutschland habe ich den Eindruck, dass in der deutschen Szene das Feindbild nicht mehr klar ist. Die meisten "Szenezeitungen" befassen sich meiner Meinung nach mit Psychodiskussionen, die zu keinem Ausweg führen und die nichts, aber auch gar nichts D-Faktum in unserer Gesellschaft ändern oder gar befreien. Besonders aufgefallen ist mir, dass sich viele Leute am Sprachstil und der Form festlegen. Dass die Sprache auch eine wichtige Komponente einer Revolution ist, bestreite ich auf keinen Fall. Wenn diese aber zum Hauptthema und Lebensinhalt einer ganzen Bewegung wird, so ist es ein Zeichen, dass die Leute es bevorzugen, sich auf die Theorie zu fixieren, um nicht zur Handlung übergehen zu müssen. Was ändert es, wenn alle ganz brav "die VersuchstierInnen" schreiben, sich auf die Form fixieren, aber gar nicht daran denken, diese Tierlnnen aus den Laboren zu befreien? Grundsätzlich denke ich, dass Theorie und Praxis Hand in Hand gehen sollten.

Ist dies nicht der Fall, unterscheidet sich eine sogenannte Revolutionär/Militant/Nennsiewieduwillst-Szene auch nicht von einem Kirchenkongress. Diese Missionierungswelle in Deutschland erreicht dann, meiner Meinung nach, den Gipfel in der ganzen Diskussion um Sexismus usw. Besonders kurios daran ist, dass genau in diesem Land, in dem männliche Mitstreiter gezwungen werden, ein gewisses PC-Verhalten gegenüber Frauen in der Szene zu zeigen, es ständig zu unsympathischen Vorfällen kommt. (Onaniegeschichte in München, Heiter bis Wolkig, usw.) Spätestens bei diesen Vorfällen (inwiefern diese Anklagen überhaupt berechtigt oder überzogen sind, und in anderen Fällen vielleicht einfach weggeschwiegen werden, ist noch mal eine Frage, die mensch sich doch wirklich stellen sollte, wenn mensch sie nicht persönlich miterlebt hat) sollte mensch sich doch wirklich fragen, welches wohl die Gründe sind, warum es zu diesen Vorfällen überhaupt kommen kann. Dies mit einem einfachen "Männer sind halt Sexisten,... ,auch wenn Genossen,... ,das Patriarchat...." abzustempeln, scheint mir banal, platt und einseitig.

Dies erweckt, zumindest bei mir, den Eindruck, dass der Feind an sich der Mann ist. Also unsere Gesellschaft wäre wohl schon längst befreit, wenn es diese Männer nicht geben wurde? Da bleiben uns aber noch die Polizistinnen, die Richterinnen, die Politikerinnen, die Forscherinnen, die freiwilligen Soldatinnen und und und, übrig. Zu gerne wird z.B. Emma Goldmann zitiert. Übersehen wird jedoch anscheinend, das diese Frau ihren Schwerpunkt gegen den Staat als solchen richtet, diesen konkret, also in der Tat bekämpfte und innerhalb dieses globalen Kampfes auch die Befreiung der Frau als Individuum und nicht als "Nichtschwanz-Trägerin" miteingebunden hat.

Die Aktbilder in der Arancca heben eine Diskussion ausgelöst, über die ich mich nur wundern kann. Warum regen sich diese entsetzten Leute nicht genauso intensiv darüber auf, dass es im Knast bekleidete Menschen gibt, die der Zwangsarbeit unterliegen? Warum entsetzt sich kaum jemand über den Vorschlag des freiwilligen Wehrdienstes für Frauen? Kein Wort über die bekleideten Knastwäscherinnen, die tagtäglich dazu beitragen, andere Frauen einzusperren und zu entwürdigen. Also wo liegt bitte der Feind? Sind die Feine diejenigen, die uns tagtäglich für ihre Geldgier missbrauchen, die unseren Lebensraum einschränken und zerstören, die uns unterdrücken und gefangen halten, oder sind die Feinde die, die versuchen diese stagnative Situation, in der sich ein Großteil der deutschen (und nicht nur der deutschen) Politszene befindet, durch Provokation zu brechen?

Warum stürmen die Feministinnen nicht die Frauenknäste und holen die Frauen raus? Warum sabotieren sie nicht alle Fabriken, in denen bekleidete Frauen ausgebeutet werden? Dies könnte als konkreter Versuch verstanden werden, Frauen zu befreien. Diejenigen Frauen (und Männer), die ansatzweise versucht haben, dem Kampf eine Richtung zu geben, können es anscheinend gar nicht laut genug krachen lassen, um die oberflächliche Diskussion ein für alle mal zu übertönen, da es letztendlich doch bequemer ist sich mit der Theorie herumzuschlagen.

Ich werde das Gefühl einfach nicht los, dass wenn die Hauptthematiken Sexismus und PC nicht wären, müssten diese erfunden werden, denn über was sonst könnte sich der Großteil der Szene noch unterhalten. Meine Absicht ist nicht, irgendwelchen Leuten bewußt auf die Füße zu treten. Ich habe keinen persönlichen Bezug zu den Verfasserlnnen von Artikeln, daher betrachte ich jegliche Artikel und Stellungnahmen rein sachlich und inhaltlich. Das Ergebnis: Ich wundere mich nur noch!

A.chistln