In der Politik gibt es manchmal merkwürdige Signale. Sie zeigen das Gegenteil von dem an, was wirklich passiert. So verhält es sich auch mit dem so genannten Atomkonsens. Von freiwilliger Übereinkunft kann keine Rede sein. Die beiden Vertragspartner hatten einander erpresst: Die Koalition von SPD und Grünen drohte mit einem Gesetz gegen Atomkraftwerke, und die Stromkonzerne drohten mit Klagen auf Entschädigung. Am Ende haben sich die Konzerne auf ganzer Linie gegen die rot-grüne Bundesregierung durchgesetzt. Wenn die grüne nordrhein-westfälische Umweltministerin Bärbel Höhn sich für zufrieden erklärt, weil der Ausstieg nun wirklich in die Tat umgesetzt werde, dann ist das lediglich die Schutzbehauptung eines Verlierers.
Es gibt keinen Ausstieg aus der Kernenergie. Die Nutzung der umstrittenen Energiequelle ist vielmehr auf Jahrzehnte festgeschrieben. Längere Laufzeiten als die jetzt vereinbarten hätte die Energiewirtschaft auch ohne "Konsens" nicht einkalkuliert, und seit Jahren ist kein neuer Atommeiler geplant und beantragt worden. Regierung beurkundet Sicherheit Mit den Stimmen der grünen Minister hat die Regierung zugesichert, dass sie alles in ihren Kräften Stehende tun werde, um den ungestörten Betrieb der Kraftwerke zu gewährleisten.
Weil der Bund in der Atompolitik das letzte, entscheidende Wort hat, kann er die Bundesländer anweisen, entsprechend zu verfahren. Dazu ist er jetzt nach dem Vertrag sogar verpflichtet. Nebenbei hat die rot-grüne Bundesregierung beurkundet, dass sie den Betrieb der Kraftwerke für verantwortbar und sicher hält, so dass keine wesentlichen neuen Sicherheitsvorkehrungen benötigt werden. Wenn die deutschen Kernkraftwerke so sicher sind, dass sie ohne Probleme noch Jahrzehnte betrieben werden können, leuchtet jedoch nicht ein, weshalb Deutschland in Zukunft überhaupt auf Kernenergie verzichten soll. Die Antwort auf diese Frage ist wohl nur noch mit Rechthaberei und Ideologie zu erklären. Aus Sicht der Konzerne stimmt das Preis- Leistungs-Verhältnis.
Außer verbalen Zugeständnissen, die sie außerdem noch mit einem Vorbehalt versehen haben, mussten sie auf so gut wie gar nichts verzichten, dürfen sogar ihre immensen Geldrücklagen behalten. Dafür, dass sie ihre Unterschrift unter ein Papier mit der Überschrift "Ausstieg" gesetzt haben, bekommen sie von der Regierung ein umfassendes Leistungspaket, das Roten und Grünen noch viel Ärger mit ihren eigenen Anhängern einbringen wird. Denn die werden sich von dem merkwürdigen Produkt nicht täuschen lassen, bei dem außen auf der Packung "Ausstieg" steht und innen ein ungestörter Weiterbetrieb der Atomenergie enthalten ist.
Einem solchen Konsens einer CDU/CSU- FDP-Regierung hätten SPD und Grüne niemals zugestimmt. Für die niedersächsische SPD und die hiesigen Grünen ist die Berliner Atompolitik besonders schwer zu verdauen. Der Vertrag sieht vor, dass Schacht Konrad bald als Endlager für schwach- und mittelradioaktive Abfälle in Betrieb genommen wird. Ein solches Lager ist dringend notwendig; es ist auch nicht sonderlich gefährlich. Mit dem Bau eines Endlagers für gefährliche hochradioaktive Abfälle können wir uns noch etwas Zeit lassen. Deshalb gibt es für den Weiterbau in Gorleben eine Frist von maximal zehn Jahren, damit sich die heute regierende Politikergeneration entspannen kann. Aber danach soll es mit dem Bau weitergehen, steht in dem Vertrag, und kein anderer Ort wird als Alternative genannt.
Ein guter Vertrag Aus energie- und umweltpolitischen Gründen kann man das Übereinkommen begrüßen. CDU und CSU wären ganz schlecht beraten, wenn sie daran rühren würden, falls sie in Berlin wieder Regierungsverantwortung übernehmen. Die Kernenergie bleibt uns für Jahrzehnte als preiswerte, sichere Energie erhalten, durch deren Nutzung die Umwelt relativ wenig geschädigt wird. Die sichere Beseitigung des Atommülls steht nach wie vor auf der politischen Tagesordnung und wird nicht auf den Sankt-Nimmerleins-Tag verschoben.
Fatal ist nur, dass verantwortliche Politiker für eine richtige Politik offensichtlich falsche Etiketten benötigen. Der Atomkonsens ist ein Symptom für den Zustand der Gesellschaft am Investitionsstandort Deutschland. Wichtig ist anscheinend immer nur, woraus man aussteigt. In welche neue Form der Stromerzeugung wir einsteigen werden, bleibt offen. Aber das wäre dann wieder ein anderes Kapitel.