Hauptsache, die Langeweile ist lustig
Die Eule # 1, Nov. 95
Folgender Text wurde uns von einer Person zugesandt, die mit der Erdbefreiung sympathisiert und von ihren Erfahrungen mit ihren Mitmenschen berichtet:
Die Lebensmaxime von vielen Menschen lautet: es ist doch alles scheißegal, Hauptsache es ist lustig. Vorgegebene Ideale und moralische Ansprüche werden spätestens dann zu Lippenbekenntnissen, wenn es darum geht "Spaß zu haben". Dabei meine ich keineswegs nur die sogenannten "Stinknormalen, Spießer, Yuppies" und wie sie auch alle im Szene-Jargon genannt werden, sondern vor allem alles, was als "linke Szene" bezeichnet wird oder sich selbst bezeichnet. In dem Bestreben, sich möglichst weit von der kleinbürgerlichen Gesellschaft abzuheben, findet, von den Beteiligten unbemerkt, eine ständige Annäherung statt.
Ein Arbeitskollege, Nachbar oder Freund wird ausschließlich danach beurteilt, wie lustig er/sie ist. Wenn du den Mund aufmachst, hast du die verdammte Pflicht, lustig oder doch mindestens unterhaltsam zu sein, damit sich die Zuhörer nicht langweilen. Und die haben nie Geduld oder Zeit und langweilen sich schnell. Ihre Ansprüche an dich sind sehr hoch, ihre Ansprüche an sich selbst dagegen sehr gering oder gar nicht vorhanden. Der typische "Unterhalt-mich-mal-Mensch" kommt zu einer Gruppe oder Einzelperson und erwartet, dass sie ihm etwas Interessantes, Lustiges oder Unterhaltsames erzählen.
Wenn er/sie dann etwas von sich gibt, wage es ja nicht ein desinteressiertes oder gelassenes Gesicht zu machen, selbst wenn das Erzählte weder interessant noch lustig oder unterhaltsam ist. Wenn du nicht voll mitgehst, bist Du es, der letztendlich als langweilig bezeichnet wird. Merke: Du musst immer auf dein Gegenüber eingehen und so viel zu der Unterhaltung beitragen, dass er/sie nicht das Gefühl hat, dich "vollzulabern". Wenn deinem Gegenüber der Gesprächsstoff ausgeht, dauert es nicht lange, bis ein "Ooh, ist mir langweilig" zu hören ist. Damit wird dann versucht, dir ein schlechtes Gewissen zu machen. Wie konntest du auch nur für ein paar Minuten deine Pflicht vernachlässigen und niemanden auf dieser Welt mit einer Erzählung oder auf eine andere Art und Weise erfreuen?
Wenn du akzeptiert werden willst, musst du dich z.B. dem platten, niveau- und geistlosen Humor deiner Arbeitskollegen, Mitschüler u.ä.(Freunde kann man sich ja aussuchen) anpassen. Das läuft dann häufig auf einen großen anteil an anzüglichen Bemerkungen gegen über Frauen und Fick-Witzen hinaus.
Viele der "Unterhalt-mich-Menschen" sind so stumpfsinnig, einfältig und phantasielos, dass ihnen ein paar Stunden Small-lustiges-Talk-Geschwätz pro Tag ausreichen. Denjenigen dieser Gattung, die ihrer Phantasie durch regelmäßigen, wöchent(end)lichen Drogenkonsum auf die Sprünge helfen, bist du ein Dorn im Auge. Womöglich trinkst du keinen Alkohol, kiffst nicht und schmeißt auch keine Pillen? Glaub mir, du hast schon verloren. Wie langweilig, trist und vor allen Dingen unlustig muss dein Leben ohne diese ständig sich wöchenendlich wiederholenden Drogenexzesse sein. Du kommst nicht in den lustigen Genuss und das witzige Vergnügen über Banalitäten gewohnheitsmäßig grunzend zu lachen.
Nicht selten siehst du deine Kritiker auf Partys. Sie singen mit erhobener Faust und wutverzerrtem Gesicht Parolen längst vergessener Songs wie "Der Kampf geht weiter" und "Wir werden niemals aufgeben", um kurz danach in einen komaartigen Schlaf zu fallen. Manchmal schaffen sie es noch vorher, ihre Verachtung der Gesellschaft und, vor allem, der Faschisten und Polizisten (was letztendlich das Gleiche ist, oder?) in einem Sing-Sang-Gelalle zum Besten zu geben. Sie hoffen allerdings insgeheim, dass dem Faschismus niemals der Nährboden entzogen wird. Wenn das der Fall wäre, würden sie um ihren zentralen Lebensinhalt gebracht und worüber sollten sie dann mit anderen sprechen und wogegen ausschließlich verbal anstinken? Hast du jetzt verstanden, dass das alles zur Subkultur und damit zum Pflichtprogramm dazugehört?
Doch auch unter denen, die ihr Bewusstsein nicht jedes Wochenende um ungefähr dieselbe Zeit an ungefähr denselben Orten mit Drogenhilfe unendlich (manchmal auch bis zum Ende) erweitern, gibt es ein lustiges Völkchen. Es wird akribisch darauf geachtet, dass man bei allem, was man tut, seinen Spaß hat. Verhaltensweisen, die einem Lebensideal, einer Überzeugung und ethischem Anspruch entsprechen und die zufällig keinen Spaß machen, nicht lustig sind, werden abgelehnt. Die Hardcore-Bewegung (Subkultur, die Punk musikalisch und ursprünglich in seiner Gesellschaftskritik weiterentwickelte, der Tipper) hat ein ebenso großes Potential an Konstruktivität wie auch an perversen Widersprüchen und Mitläufern. Inkonsequenz ist an der Tagesordnung. Da lässt jemand keine Gelegenheit aus, den Kapitalismus anzuprangern und baut regelmäßig auf Konzerten seinen Stand auf, um Shirts mit politischen oder Menschen- und Tierechtsmotiven mit einer Gewinnspanne von einhundert oder wesentlich mehr Prozent zu verkaufen (Freunde bekommen natürlich 30-50% Rabatt). Um Informationsverbreitung und Aufklärung geht es ihm/ihr nicht, an Broschüren, Flugis u.ä. lässt sich halt nichts oder fast nichts verdienen.
Andere sind Vegetarier oder straight (= drogenfrei, d.T.), wenn ihre "Freunde" und außerdem so viele andere aus der Hardcore-Szene es auch sind. Sie halten sich häufig für besonders abgefahren und interessant. Vegan (= frei von allen Tierprodukten, d.T.) zu leben, lehnen sie selbstverständlich ab. Das ist ja auch wirklich zu viel verlangt für Leute, denen es reicht, sich soweit von der Masse abzuheben, dass sie glauben, diese moralisch verurteilen zu dürfen und die einzig und allein das Verhalten und Aussehen ihrer musikalischen Idole imitieren zu wollen.
Nicht zu vergessen die Leute, die Freiheit mit Arbeitslosigkeit verwechseln oder selbsternannte EARTH FIRST!ler, die zu allen weit entfernten Konzerten, Partys, Veranstaltungen u.ä. mit ihrem eigenen oder einem geliehenen Auto fahren. Schließlich wird das Konzert oder die Party bestimmt total lustig, spaßig und witzig und der Zweck heilig bekanntlich die Mittel. So fröhnt jeder auf seine Art der Dekadenz.
So und jetzt komm du nicht daher und wage es zu sagen, dass du dich auch wohl fühlst, wenn du an manchen Tagen mit niemandem sprichst oder nur sehr wenig und das wenige nicht unbedingt interessant, lustig oder unterhaltsam sein muss. Menschen, die in sich selbst ruhen und Stunden oder Tage allein sein können, ohne sich einsam oder gelangweilt zu fühlen, sind hier nicht erwünscht. Seit wann kann und darf sich ein Mensch über einen längeren Zeitraum mit sich selbst beschäftigen? Denk an den tagtäglich stattfindenden Konkurrenzkampf und übernimm gefälligst die billigen und vergänglichen, leicht zu erlernenden Verhaltensmaßregeln, von denen einige wie folgt aussehen:
a) Wenn dich jemand fragt, wie dein Wochenende, die Party oder das Konzert war, gib immer eine positive Antwort. Ansonsten könnte dein Gegenüber auf die Idee kommen, dass Du langweilig bist und überhaupt nicht lustig und witzig und spaßig und es an Dir lag, dass es nicht anders war. Wenn du dennoch ein "Boah, war das langweilig" loswerden willst, mach sofort klar, dass es an den anderen lag, wenn sich das auch eigentlich von selbst verstehen sollte.
b) Versuche immer möglichst viel zu erzählen, was gleichzeitig witzig ist und einen anderen Menschen abwertet. Mach dir keine Gedanken darüber, ob einE AnwesendeR dadurch verletzt wird oder du sein/ihr Vertrauen missbrauchst. Das Ziel ist es, die anderen zu lautem, kreischendem, hysterischem, krankhaftem Lachen zu bringen. Wenn du das erreichst, bist du eine Wohltat für die geschundenen Seelen deiner Zuhörer, denn Lachen macht bekanntlich gesund und glücklich und das ist doch die Hauptsache.
c) Versuche möglichst immer ein fröhliches Gesicht zu machen, gleichgültig ob du dich auf einer Party unterhältst oder nicht oder ob du in die Stadt zum Einkaufen fährst. Willst du dir etwa vorwerfen lassen, dass du einen mürrischen Eindruck machst, selbst wenn du dich innerlich völlig ausgeglichen und zufrieden fühlst?
d) Versuche immer zu beweisen, wieviel Spaß du haben kannst und wie lustig du bist. Dein oberstes Gebot sollte es sein, andere zum Lachen zu bringen. Entfremde dich dir selbst, entfremde dich von anderen oder allem, sei egoistisch und rücksichtslos, Hauptsache du bringst andere zum Lachen und suggerierst ihnen, dass du deinen Spaß dabei hast. In der Konkurrenz zu Freunden und Feinden darfst du nicht unterliegen, wenn es darum geht, wer an einem Tag oder Abend am meisten Spaß gehabt hat!!!
Ich weiß selbst, dass ich nicht perfekt bin und dieser Text ist eine Mischung aus Beobachtung und Selbstanalyse und natürlich völlig subjektiv. Von meiner manchmal vorhandenen inneren Zerissenheit und Unzufriedenheit mit dem Geschilderten kann ich mich durch das Aufschreiben und die dadurch erreichte Bewusstmachung in einem Akt der Katharsis befreien und weiterentwickeln.
Hoffentlich findet jemand meine Ausführungen witzig oder lustig oder spaßig oder unterhaltsam oder interessant. Wenn nicht, hat er/sie immer noch die Möglichkeit, sich über das von mir Geschriebene oder über mich lustig zu machen und ins Lächerliche zu ziehen. Auf diese Weise habe ich alle an mich gestellten Erwartungen erfüllt, was das Wichtigste ist, wie ich weiß und alle hatten ihren Spaß, ob an dem Text oder an der dadurch erzeugten Langeweile.