Ideologiekritik
Die Eule # 4, Ende 1997, Anton Feinbein

Ideologie ist, nach dem Duden Fremdwörterbuch ein an eine soziale Gruppe, eine Kultur o. ä. gebundenes System von Weltanschauungen, Grundeinstellungen und Wertungen; bzw. eine weltanschauliche Konzeption, in der Ideen (Im Sinne von Leitbildern) der Erreichung politischer und wirtschaftlicher Ziele dienen. Da es keine objektiven, absolut und überzeitlich geltenden Werturteile gibt, liegt Ideologie überall da vor, wo subjektive Werturteile in der objektiven Form von "Ist-Aussagen" ausgesprochen werden. Begriffe, in denen ein metaphysisches oder religiöses Urgefühl in die unangemessene Form einer Erkenntnisaussage gekleidet wird, sind von vorneherein ideologisch. (PW) "Die Ideologie dient zur Absicherung des einmal Gewordenen gegenüber dem Neuwerdenden" (K. Lenk), Sie beansprucht, wie Werte oder wissenschaftliche Theorien, überzeitliche und absolute Geltung. Daraus folgt, daß sich Ideologien nicht selbst in Frage stellen und die Diskussion über ihre Entstehung und ihre Auswirkungen auf die Gesellschaft verhindern. (GuS)

Karl Marx verstand unter Ideologie die von der Bourgeoisie fälschlich bzw. in betrügerischer Absicht in den Rang geistiger Wesenheiten (Ideen) erhobenen Ausdrücke materieller Verhältnisse. (PW) Die bürgerliche/kapitalistische Ideologie behauptet z.B., daß die Konkurrenz in Gesellschaft und Wirtschaft gleichsam naturgesetzlich deren bestmögliche Entwicklung und den Fortschritt für alle Menschen zur Folge haben würde. Richtig ist jedoch lediglich die Teilaussage, daß die Konkurrenz sich günstig auf quantitative Steigerung der wirtschaftlichen Produktion auswirkt. Ideologisch ist die Verallgemeinerung und die gleichzeitige Verbindung mit einer Eigentumsideologie, nach der Eigentum, besonders Privateigentum an den Produktionsmitteln, unabdingbare Voraussetzung für fortschrittliche Entwicklung sei. Die Folgen der privatkapitalistischen Konkurrenz für die Gesellschaft werden verschleiert: die Konzentration des Kapitals in den Händen weniger, die soziale Ungleichheit, und die soziale politische Herrschaft weniger Menschen. (GuS)

Nach Marx galt die Ideologie der Arbeiterklasse als die erstmals in der Geschichte gegebene angemessene wissenschaftliche Theorie der Gesellschaft, da das Proletariat die kapitalistische Klassenherrschaft durch die Selbstaufhebung seiner Existenzbedingungen und die Überwindung jeglicher Klassenherrschaft beseitigt.

K. Mannheim kritisierte den Ideologiebegriff von Marx als partikular (nur einen Teilbereich betreffend), da in ihm nur eine Interessenbildung der Oberklassen als perspektivische Verzerrung adäquater (angemessener) Seinserekenntnis erscheine. Dagegen forderte er eine Wissenssoziologie, die die Standortgebundenheit jeder Sicht auf die Gesellschaft nachweise. (B)

Max Horkheimer kritisiert hingegen die Wissenssoziologie Mannheims in seinem Aufsatz "Ein neuer Ideologiebegriff?" von 1930 (SS, S. 13-32). Horkheimer schreibt, das Weiterdenken eines Begriffes führe nicht notwendigerweise dazu, ein schärferes Erkenntnismittel aus ihm zu machen, sonst hätte der bei vielen Einzelforscher lebendige Trieb, aus Begriffen, die sich auf einem Teilgebiet als fruchtbar erweisen, eine weltumspannende Lehre zu bilden , größere Erfolge zeitigen müssen. Er kritisiert, daß bei der Wissenssoziologie die Aufmerksamkeit von der gesellschaftlichen Funktion der Ideologie auf innergeistige Erwägungen abgelenkt werde, die die wichtigsten Teile der gesellschaftlichen Wirklichkeit unberührt ließen. Auch solle durch die Wissenssoziologie wieder ein System aufgestellt werden, und zwar eins, in der die Warheiten aus allen bestehenden Systemen zu einem (sich stetig erweiternden) System aufgenommen würden. Die Vorstellung, die vorhandenen Systeme ließen sich in einem Ganzen vereinen, stellt sich nach Horkheimer selbst als Ideologie heraus, die an einer objektiven, ewigen Wahrheit festhält:

  • "Marx hatte mit Recht die Überzeugung beseitigen wollen, als gebe es ein die Epochen und Gesellschaften durchwaltendes Sein, das ihnen einen Sinn verleihe [...] Die irdischen Geschöpfe und gar nichts sonst haben ein 'Schicksal'; weder von einem Geist noch von irgendeinem 'Wesen' kann man mit Grund sagen, daß die Schicksale des 'Historischen und Sozialen... auch irgendwie Schicksale sind' (Mannheim), [...] soweit die Geschichte nicht dem bewußten Sinn der sie planmäßig bestimmenden Menschen entstammt, hat sie daher auch keinen, und man kann ihre verschiedenen Bewegantriebe in einer bestimmten Epoche zwar wissenschaftlich unter Gesetze zu befassen suchen, aber die Behauptung eines verstehbaren Sinnes hinter den Begenbenheiten, ob er nun bei Hegel wirklich ausgeführt oder bei Mannheim bloß beteuert wird, beruht auf philosophischer Erdichtung. Es gehört zum Marxschen Materialismus (philosophische Lehre, die die ganze Wirklichkeit auf Kräfte und Bedingungen der Materie zuückführt), gerade den unbefriedigenden Zustand der Dinge in der irdischen Wirklichkeit als das wahre Sein auszusprechen und nicht zuzulassen, daß irgendwelche Gedanken der Menschen als Sein im höheren Sinn hypostatiert (vergegenständlicht) werden. Er ist der geschworene Feind jedes Versuchs, die Wirklichkeit aus einem Ideenhimmel oder überhaupt aus einer rein geistigen Ordnung zu verstehen. Ein solcher Trost über die Welt ist uns nach Marx versagt." (SS, S. 22f.)
  • In dem Aufsatz "Ideologie und Handeln" (1950, SS S. 59-67) macht Horkheimer weitere Anmerkungen zur Rolle von und zum Umgang mit Ideologie. Das Problem der Ideologie ließe sich nicht durch die Aufstellung eines anderen Systems auflösen. Vielmehr müsse sich von dem Denken verabschiedet werden, daß die Praxis, d.h. die Herbeiführung einer Veränderung im privaten oder gesellschaftlichen Leben, der Rechtfertigung durch angeblich unveränderliche Wesenheiten bedürfe, sowie von dem Denken, das die historische Bedingtheit eines Zieles als philosophischen Einwand gegen seine innere Notwendigkeit und Verbindlichkeit ansehe.

  • "Die Praxis bedarf dauernd der Orientierung an fortgeschrittener Theorie. Die Theorie, auf die es ankommt, besteht in der möglichst eindringenden und kritischen Analyse der historischen Wirklichkeit, nicht etwa in einem Schema konkret ontologisch (die Ontologie betreffend, d.h. die Lehre vom Sein, von den Ordnungs-, Begriffs- und Vesensbestimmungen des Seienden) begründet sei. Die Darstellung und kritische Analyse der Wirklichkeit, von der die Praxis jeweils beigeistet wird, ist vielmehr selbst durch praktische Impulse und Strebungen bestimmt. Wie die Entfaltung und Struktur der Naturwissenschaft weitgehend aus dem gesellschaftlichen Bedürfnis nach Naturbeherrschung zu erklären sind, so prägen sich in der Begriffsbildung der sogenannten Geistes-und Sozialwissenschaften die Bedürfniss und Interessen von Individuen und Gruppen aus. Es gibt weder eine von praktischen Tendenzen freie Vorstellungswelt, noch selbst eine isolierte, von Praxis und Theorie freie Wahrnehmung." (SS, S. 65)
  • Im Alltag gebe es Situationen, deren Wahrnehmung uns, ohne den Rückgang auf abstrakte Normen und Vorschriften, ein Handeln zwingend nahelege. Wenn sich aus der Betrachtung der historischen Situation ergäbe, daß die Menschheit im Begriff stehe, von totalitären, menschenverachtenden Systemen erfaßt zu werden, so vermöchten die diese Erkenntnis vollziehenden Menschen sich dem Impuls zum Widerstand gar nicht zu verschließen.

  • "Die so erkannte Lage selbst spricht eine Sprache. Es ist die des Grauens, das vom Terror ausgeht. [...] Wo das Grauen selbst nicht mehr ursprünglich gefühlt, wo die Wahrnehmung der Situation bloß unter der vorgegebenen Form der Ideen (im Sinne von Vorstellungen, Leitbildern) und nicht im Zusammenhang mit dem ureigenen Interesse lebendig vollzogen wird, da bleibt die Berufung auf sie ohnmächtig. [...]

    Der Name der Ideologie sollte dem seiner Abhängigkeit nicht bewußten, geschichtlich aber bereits durchschaubaren Wissen, dem vor der fortgeschrittensten Erkenntnis bereits zum Schein herabgesunkenen Meinen, im Gegensatz zur Wahrheit vorbehalten werden. Wertgebung aber, Verflechtung sich berfeien zu können, oder infolge dieser Verflechtung bloß noch den Weg in Zufälligkeit und Nihilismus offen zu sehen, ist selbst Ideologie im engen und prägnanten Sinn."
    (SS, S. 66f.)

  • Da erstere ihre geschichtliche Verflechtung leugnet, läuft diese Wertgebung hinaus auf die Erschaffung (vermeintlich) neuer Ideologien/ Religionen/ totalitärer Systeme, die die alten reproduzieren, indem sie entweder die herrschenden Machtstrukturen oder aber auch die Kritik an ihnen absolut setzen oder als überzeitlich geltend ansehen.

    Letztere führt, weil sie meint, da sie aufgrund ihrer eigenen geschichtlichen Verflechtungen ihre Kritik nicht absolut setzen könne, infolgedessen auch keine mehr üben zu können, zur Ideologie der blinden Anpassung an den herrschenden Status Quo, zur Ideologie der blinden Akzeptanz gesellschaftlicher Herrschaftsverhältnisse.

    Quellen:
    B: Der Große Brockhaus Kopaktausgabe, Wiesbaden 1984
    GuS: Gesellschaft und Staat. Lexikon der Politik, Baden Baden 1980/81
    PW: Schmidt, Heinrich: Philosophisches Wörterbuch, Stuttgart 1982
    SS: Horkheimer, Max: Sozialphilosophische Studien, Frankfurt 1972 (1981)