Es gibt sie tatsächlich noch, jene beinharten Marxisten-Leninisten, die sich abends vor'm Einschlafen ruhelos im Bett wälzen und über die Frage brüten: "Hast du heute wenigstens einmal den Genossen Stalin verteidigt?!" Mindestens eine ganze Woche unbeschwerter Nachtruhe hat sich die Redaktion der "Roten Fahne", Organ der Marxistisch-Leninistischen Partei Deutschlands, verdient. In der Nummer 42 (22.10.1988) nimmt sie sich der Ansichten eines kritisch-sympathisierenden Lesers an, der die "unkritische Darstellung der Stalinzeit" in der RF moniert. Die Redaktion hält seine Einwände "nicht für richtig". Stalin habe "in einzelnen (wenigen) Fragen" theoretische und praktische Fehler begangen, die aber durch seine "gewaltige Leistung... in der Verteidigung und Weiterentwicklung des Marxismus-Leninismus" mehr als verblassen.
"Der entscheidende Fehler Stalins" ist laut der RF, daß er gegen die Bürokratie "nicht die Massen ... zu mobilisieren" verstand, sondern den, ebenfalls verbürokratisierten, Sicherheitsdienst einsetzte - was 'Verschiedene (!) ungerechtfertigte (!!) Verhaftungen, Überspitzungen (!) und Denunziationen" erkläre. Also: verschiedene Verhaftungen, Überspitzungen und Denunziationen waren 'ungerechtfertig' - die meisten demnach nicht. Egal! Augen zu und durch.
Und dann dieser ekelhafte Trotzki. Der hatte nun aber selbst schuld! Die läßlichste Sünd' Trotzkis in den Augen der RF noch, daß er "Vor dem Imperialismus kapitulieren" wollte (MLPDIerlnnen lesen Schriften von Trotzki und Co. nicht), er hat auch noch die Parteidisziplin verletzt (Ausschluß!), und schließlich ging er dazu über, "gegen die Sowjetunion als ganzes (auch 'ne hübsche Gegend; J.S.) aufzuwiegeln und zu unmittelbarer Sabotage" zu greifen (die RF-Redaktion liest: "Die Verschwörung des Blocks der Rechten und Trotzkisten" oder: der Marxismus-Leninismus als höchstes Stadium der Paranoia); da "mußte gegen seine Gruppe gewaltsam vorgegangen werden". Logisch! Nur eine Kleinigkeit ist den schlichten Gemütern der RF entgangen: Die 'Gruppe Trotzki' umfaßte etwa die gesamte alte Garde der Bolschewiki, ganz zu schweigen von den ausländischen Kommunistinnen, die sich sowjetischen Exil befanden - oder gar jene einfachen Sowjetbürgerinnen, die die Masse der Millionen ausmachten, die den GULAG bevölkerten. Aber das müssen jene 'ungerechtfertigen Verhaftungen, Überspitzungen und Denunziationen' sein, halt 'Fehler in einzelnen (wenigen) Fragen'.
Oder nehmen wir die sogenannte Kollektivierung der Landwirtschaft, in der "die Ausbeuterklasse der Großbauern ... als Klasse (nicht als Person) liquidiert wurde". Nun, 'liquidiert' wurde ohne Ansehn der Person, und 'Großbauern' waren offensichtlich auch kleine Familienklitschen mit ein paar Stück Vieh - 'Überspitzungen', murmelt die RF.
Ein besonders schwerwiegendes Argument der RF ist, daß "Stalin trotz aller Kampagnen auch heute noch hohes Ansehen vor allem unter älteren Werktätigen der Sowjetunion" genießt. Ähnliches läßt sich für die BRD auch von - Hitler sagen... Aber nein, der Vergleich ist natürlich nicht zulässig!
"Stalins Verdienst ist es, die Diktatur des Proletariats gegen die inneren und äußeren Feinde verteidigt zu haben." Aber dann kam dieser vermaledeite Chruschtschow, und alles war im Eimer! Von einem Tag zum anderen! Und das Proletariat schaut in aller Gemütsruhe zu, wie ihm seine eigene Diktatur kaputt gemacht wird. Oder wie war das? "Ohne Einbeziehung der Werktätigen war der kleinbürgerlichen Bürokratie letztlich nicht beizukommen", kritisiert die RF Stalins 'entscheidenen Fehler'. Das Proletariat übt also seine Diktatur aus - aber Väterchen Stalin entscheidet, ob es einbezogen wird - oder halt nicht... Diktatur des Proletariats? Aber da hab' ich kleinbürgerlicher Anarchist offensichtlich nix begriffen ...
P.S.: In der RF Nr. 44 (5.11.88) wirft sich die Redaktion für Stachanow in die Bresche, jenen Bergmann, der 1935 unter Tage - Amerika entdeckte, genauer: das Taylor-System, das Lenin 1913 völlig zutreffend als "'wissenschaftliches' System zur Schweißauspressung" definierte. Wie beliebt dergleichen Streber und Akkordversauer waren, zeigt die Tatsache, daß schon 1932 ins Strafgesetzbuch der russischen Sowjetrepublik der Artikel 73 l eingefügt wurde, der das Verprügeln von Bestarbeitern besonders unter Strafe stellte...