Beim Küssen Augen zu, beim Wählen Augen auf!
Interim #305, 27.Oktober 1994

Bei Diskussionen die ich innerhalb der autonomen Szene zum Thema Wahlen mitbekommen habe, war die Alternative zum Wahlboykott stets die PDS.

Als Anarchistin wähle ich aus grundsätzlichen Gründen nicht; weil ich glaube, dass der Schaden den die Beteiligung am parlamentarischen System bringt, grösser ist als der Nutzen der durch eine andere Zusammensetzung des Parlaments entstehen könnte.

Dazu mag man stehen wie frau will; ich will hier nicht zum Wahlboykott aufrufen. Ganz sicher bin ich mir meiner Sache nämlich nicht, und sicherlich werde ich nach der Bundestagswahl enttäuscht sein, wenn es wieder heisst - vier Jahre Kohl - und mich freuen, wenn es eine rot-grüne Koalition gibt und die PDS in den Bundestag einzieht. Irgendwo klingt mir wahrscheinlich immer noch das demokratische Wahlgesäusel "deine Stimme entscheidet" im Ohr. Andererseits glaube ich nicht, dass meine Wahlbeteiligung oder die Wahlbeteiligung der Autonomen Szene irgendeine Partei über die 5% Hürde hiefen kann.

Eine bewusste Wahlenthaltung kann aber helfen, in unseren Köpfen die herrschenden Denkmuster zu entfernen, die uns hindern wirkliche Alternativen aufzuzeigen.

Wie gesagt, ich werde nicht wählen. Wenn ich aber wählen würde, würde ich mich erst fragen, was ich bewirken will. Deshalb wundert mich die Ausschliesslichkeit mit der die PDS die Grünen als das kleinere Übel in unserern Köpfen verdrängt hat. Das die Grünen schon schon an sich ein recht grosses Übel sind wird mir hier keiner bestreiten, aber um mit der SPD eine "Wende" zu machen und um Geld und Informationen (zwei beliewbte Gründe für linke Wähler) von ihnen abzuzocken, taugen sie allemal. Und da die Autonomen genausowenig wie andere Leute Wahlprogramme lesen, dürfte ein linkeres Parteiprogramm der PDS auch nicht der Grund sein weswegen wir ihr den Vorzug geben. Der Grund für die PDS Sympathie innerhalb der revolutionären autonomen Szene ist wohl das Sozialismus-Image, das sie sich im Westen gibt. Wie käme es sonst, dass wir mit der Nachfolgepartei eines Staates sympathisieren, den wir, wenn wir in ihm gelebt hätten, sicherlich bekämpft hätten?

Der Schaden, den die PDS anrichtet ist, dass in unserern und anderer Leute Köpfen der Begriff des Sozialismus mit einer Realität verknüpft bleibt, die mit ihm genausowenig zu tun hatte wie unsere jetzige. So wie stramme Sozialdemokraten der SPD treu bleiben und nicht merken, dass diese schon längst nicht mehr die Partei der Arbeiter ist, bleiben wir diesem Sozialismus treu und merken nicht, dass er noch nie einer war. Spätestens seit Stalin war die Sowjet-Union nichts weiter als ein um Macht kämpfender Nationalstaat mit einer ihrer Geschichte geschuldeten Ideologie. Wie sollten ihre Vasallenstaaten etwas anderes sein?

Im Klartext: Mensch kann PDS wählen, genauso wie mensch die Grünen, die SPD oder CDU wählen kann. Es bleibt alles im Rahmen des bürgerlichen Staates. Die PDS ist nicht sozialistisch.
Christine