Text eines Flugblattes welches die F.U.R.A. während einer Kampagne gegen Wahlen und Herrschaft vor der Bundestagswahl 2002 verteilt hat
Es ist Wahlkampf. Die Menschen in D-Land haben wieder einmal die Möglichkeit, ihr Kreuz an der „richtigen“ Stelle zu machen. Sie glauben, die Politik mitbestimmen zu können. Gewählt werden Parteien und Personen, die in einem Parlament über alle entscheiden. Genauer gesagt, Mensch kann nur mittels der Wahl entscheiden, wer letztlich über das Wohl von 82 Millionen Menschen bestimmen soll. Wahlen stützen ein System, dass auf Herrschaft basiert. Herrschaft bedeutet u. a., Entscheidungen über die Köpfe anderer hinweg treffen und durchsetzen zu können, deren Folgen von ganz anderen Menschen getragen werden müssen.
Dieser Text soll Demokratie und die Bedeutung von Wahlen untersuchen und aufzeigen, dass es auch noch eine Alternative gibt: ein selbstbestimmtes herrschaftsfreies Leben. Das Entscheidende am demokratischen System ist, dass von einer kleinen Minderheit erwartet wird, die Probleme zu lösen.
Es gibt sicherlich viele Ansichten innerhalb der Parteien, eine ist jedoch immer gleich: alle Parteien wollen ihre Ziele mit Herrschaft und Gewalt durchsetzen. Selbst wenn die Regierung den Willen der Mehrheit ausführt, wird somit immer eine unterdrückte Minderheit geschaffen. Mehrheit und Minderheit gibt es jedoch nur, wenn es eine Gemeinschaft gibt, die zwangsweise einheitlich agieren muss. Ein „Volk“ sieht sich immer als eine „Nation“, als eine unzertrennliche Gemeinschaft. Nationalismus jedoch ist ein Denkkonstrukt, er existiert nur in den Köpfen. Besser gesagt: nationale Gefühlsduselei ist die Einbildung, es würde eine homogene Gemeinschaft existieren. Wie die sogenannten Gemeinsamkeiten, wie „deutsche Sprache“, „deutsche Kultur“, „deutsche Werte“ oder Gewohnheiten, auf 82 Millionen Menschen angewandt werden, ist nicht nur Einbildung, sondern blinde Dummheit.
So kann es keine einheitliche deutsche Kultur geben, nur weil hier auf diesem Stückchen Erde berühmte "Dichter und Denker" gelebt haben. Ihre kulturellen Errungenschaften sind deshalb noch lange nicht deutsch. „Deutsche“ Sprache können viele Menschen auf der Welt sprechen. Sollen sie deshalb als „Deutsche“ bezeichnet werden? Nationalismus ist ein Glaube, fast eine Religion, die auf Ausgrenzung derer basiert, die einfach anders sein sollen. Diese Krankheit der nationalen „Volksgemeinschaft“ schafft einen gesellschaftlichen Zwang des Einheits - und Führungswahns. Ein „Volk“ - ein Land - eine Führung. So darf es offiziell immer nur eine Richtung geben, in der die gesellschaftliche Entwicklung verläuft.
Diese Entwicklung schafft Einfältigkeit statt Vielfältigkeit. In einer Gesellschaft gibt es verschiedene Gruppen mit verschiedenen Ansichten. Anstatt diesen die Möglichkeit zu geben, selbstverwaltet in autonomen Gruppen parallel zu existieren, werden sie dem Einheitszwang untergeordnet. In einer Wahl des Parlaments soll die „Volksführung“ bestätigt werden. Kommt in Diktaturen die Führung mit Gewalt an die Macht, so in der Demokratie durch Wahlen. Die wirkliche Entscheidungsgewalt bleibt jedoch bei beiden in den Händen weniger.
Das Prinzip der Herrschaft ist jedoch nicht nur auf die Regierung beschränkt. Herrschaft durchzieht die gesamte Gesellschaft. Familie, Schule und hierarchisch organisierte Betriebe sind nur einige Beispiele. Auch Diskriminierung, Rassismus, Bevormundung und Altersunterdrückung haben ihre Ursachen in der Herrschaft. Selbst wenn sie „gute“ Ergebnisse produzierte, würde sich am Ganzen nichts ändern, d.h. die autoritäre Ebene bleibt. Als Beispiel sind Windräder zwar toll, aber auch nicht, wenn sie gegen den Willen der dort lebenden Menschen und Naturschutz in die Landschaft gesetzt werden.
Zurück zu den Wahlen. Am 22. September soll ein neuer Bundestag gewählt werden. Selbst Bismarck erkannte schon ein wichtiges Prinzip der Wahlen: „Es wird niemals soviel gelogen wie vor der Wahl, während des Krieges und nach der Jagd.“ Herrschaft ist kein Weg zur Herrschaftsfreiheit. Egal welche Parteien auch immer gewählt werden, sie werden sich an das herrschende System angleichen. Es ist nicht auf individuelles Versagen oder moralischen Verfall zurückzuführen, sondern die konsequente Folge von finanziellen Abhängigkeiten, Sachzwängen, Erwartungshaltungen und dem Interesse am Machterhalt an sich. All das ist strukturell im System verankert. Alle historischen Beispiele, und davon gibt es bereits viele, belegen, wie der Aufstieg zur Macht sich auswirkt, wie sich Menschen von den ursprünglichen Zielen entfernen, sich brutalisieren und vor allem am Machterhalt interessiert sind.
Jeder Aufruf zur Wahl ist die Anerkennung staatlicher Herrschaft und Gewalt. Der Gang zur Wahlurne wird zur faktischen Zustimmung zur eigenen Ohnmacht zum demokratischen Projekt, seine Stimme weggegeben zu haben. Wahlen reduzieren das eigene Engagement auf das gemachte Kreuz. Die eigene Verantwortung wird einfach anderen überlassen, die dann die Probleme lösen sollen. Den Wählern wird dann etwas von Freiheit und Mitbestimmung erzählt, jedoch macht es eher den Anschein einer Ruhighaltefunktion. Wahlboykott signalisiert eine Ablehnung des bestehenden Systems. Eine Möglichkeit wäre noch ungültig zu wählen, um nach der Wahlauswertung die Statistik zu verschönern.
In antifaschistischen Kreisen wird oft dazu aufgerufen, wählen zu gehen, um rechtsextreme Parteien zu verhindern. Das Problem wird durch die „Zwei - Haufen - Scheiße Logik“ aus dem „Werner“ - Comic sehr schön verdeutlicht [Werner-Comic nur im Flugblatt]. Einer schlechten Variante wird eine noch schlechtere gegenübergestellt. Schon erscheint die erstere als die bessere Wahl. In Frankreich wurde das gut sichtbar. Um den rechtsextremen Le Pen zu verhindern, organisierten antifaschistische Initiativen Proteste und riefen dazu auf, den rechten Chirac zu wählen. In vier Jahren ruft Mensch hier vielleicht auf, Stoiber zu wählen, weil ihm ein noch größeres Arschloch gegenübergestellt wird. Wahlboykott alleine reicht jedoch nicht aus. Viele Menschen gehen nicht zur Wahl, weil sie sich von keiner der dortigen Parteien vertreten fühlen und meinen, es müssten neue Parteien gegründet werden. Die Herrschaft wird durch Wahlboykott noch nicht in Frage gestellt und sollte somit auch keine Fixierung darstellen. Sinn hat das Ganze nur, wenn die eigene politische Bestimmung nicht einfach anderen überlassen wird.
Selbstbestimmung statt Fremdbestimmung! Eine herrschaftsfreie Gesellschaft baut auf jeden Einzelnen auf. Die Selbstorganisierung der verschiedenen gesellschaftlichen Bereiche, ob das in Betrieben oder auch im privaten Bereich, stellt einen wichtigen Schritt dar. Um bestimmte Probleme zu lösen, reicht es meist aus, diese regional zu thematisieren, zu diskutieren und gemeinsam zu entscheiden. Für den Weg dorthin ist es wichtig, dass Prozesse initiiert werden, die das Bewusstsein der Menschen dahingehend verändern, Wahlen und Herrschaft nicht mehr anzuerkennen, sondern gemeinschaftlich nach selbstorganisierten Gegenentwürfen zu suchen.