Insofern hat die Forderung nach Aussageverweigerung was ZeugInnen angeht nicht nur eine politische sondern in ihren Konsequenzen für die Betroffenen auch eine sehr persönliche Ebene.
Letztere unter den Tisch fallen lassen zu wollen, um die durch die klare Forderung "Keine Aussagen - Keine Kooperation mit dem Staatsschutz" erkämpfte politische Stärke nicht zu gefährden, verhindert letztlich genau diese Stärke.
In der Realität sieht es doch zur Zeit so aus, daß die "Anna und Arthur haltens Maul Kampagne" seit den Schüssen an der Startbahn zwar große Kreise erreicht hat, von vielen für richtig befunden und unterstützt wird, in der konkreten Situation einer ZeugInnenladung und eines Verhörs dann aber die meisten Betroffenen doch 'ne Menge erzählen.
Die weitverbreitete Aussagebereitschaft der linken Szene alleine mit dem ständigen Wiederholen der richtingen Forderung bekämpfen zu wollen, heißt, die Kampagne für richtig und die Menschen für falsch zu erklären. Damit kommen wir nicht weiter...
Das folgende ist aus der sehr lesenswerten Broschüre aus Bochum 'Wenn die Sache irre wird - werden die Irren zu Profis. Infos und Texte zur Aussageverweigerung und Beugehaft' abgeschrieben.
Am 18.12.87 waren mit Schwerpunkt Ruhrgebiet 33 Wohnungen und Arbeitsplätze wg. RZ und Rote Zora durchsucht worden. Ein dreiviertel Jahr später folgten massenweise ZeugInnenvorladungen. Die meisten von ihnen standen im Zusammenhang mit der Verfolgung damals Abgetauchter. Zwei der Zeuginnen verweigerten die Aussage bis zum Schluß und wurdcn deswegen in Beugehaft genommen. U.a. durch den massiven juristischen und politischen Druck gegen dieses Vorgehen der BAW mußten die beiden nach mehrwöchiger haft wieder entlassen werden.
Interessant ist in diesem Zusammenhang auch, daß wegen dem bei einer Hausdurchsuchung im Herbst 88 (zum gleichen Komplex wg. eines Gesuchten beschlagnahmten Materials zu Aussageverweigerung gegen alle vier Bewohnerinnen ein 129a-Ver- fahren eingeleitet wurde. Begründung der Staatsschutzbehörden:
Die Bereitschaft zur Aussageverweigerung zu wecken oder zu bestärken, sei geeignet, das Vertrauen der RZ's in eine "breite solidarische Verschwiegenheit der Szene" zu stärken und sie auf diesem Wege zu zu einer Fortsetzung ihres "strafbaren Tuns" zu motivieren.
"Es gibt keine entlastenden Aussagen"
Es gibt keine entlastenden Aussagen. Das Interesse der Bundesanwaltschaft besteht gerade darin, nur Belastendes zu finden.
Anscheinend entlastende Aussagen können schnell in ihr Gegenteil verkehrt werden. Zumal es kaum absehbar ist, welche Informationen von der BAW zu Indizien gemacht werden können in Verfahren, in denen es häufig noch nicht einmal einen konkreten Tatvorwurf gibt. Die BAW ist sehr phantasievoll in dieser Hinsicht!
Es gibt keine harmlosen Aussagen
Schon aus der Begründung laufender Ermittlungsverfahren wird ersichtlich, daß es kaum Unverdächtiges in den Augen der Staatsschützer gibt. So müssen zB. als Indizien herhalten:
Auch Im privaten Bereich, zB. dem Zusammenwohnen in einer WG wird es schwierig mit harmlosen Antworten. Auf Fragen nach FreundInnen, Bekannten, Aufstehgewohnheiten, Krankheiten, Lese- und Telefoniergewohnheiten der beschuldigten Person zu antworten, das diese Dinge nicht bekannt seien, legt für das BKA den Sch1uß nahe, daß diese Person konspirativ gehandelt haben muß.
Beispiel: Telefongespräche
Eine Zeugin wird gefragt, ob ihre Mitbewohnerin X mit Y bekannt ist. Im Bemühen möglichst schwammig zu antworten, sagt die Zeugin: "Ich weiß nicht". Nun hat aber das BKA die Person X schon länger bespitzelt und ein Telefongespräch zwischen X und Y abgehört. Auf diesem Hintergrund, der der Zeugin nicht bekannt ist, wird die Aussage "ich weiß nicht" zur relevanten Information. Verheimlicht die Zeugin die Beziehung, weil sie ihr heikel erscheint, oder hat gar X selbst gegenüber der Zeugin die Beziehung zu Y verheimlicht? Beides deutete auf eine möglicherweise konspirative Beziehung zwischen X und Y hin.
Beispiel: Rasterfahndung
Auch scheinbar banale Aussagen können zur Aufstellung von Rastern dienen. Die harmlose Eigenschaft, Leser der Süddeutschen Zeitung zu sein, ließ Rolf Pohle in das Fangnetz des BKA laufen. Durch Observierung der Zeitungskioske in Athen wurde er beim Kauf einer solchen erwischt.
Im Rahmen der Rasterfahndung ergeben dann auch Fragen nach Krankheiten, Angewiesensein auf bestimmte Medikamente, Allergien, Kontaktlinsen einen Sinn.
Es gibt keine banalen Fragen
Auch scheinbar banale Fragen und solche, auf die es amtliche Antworten gibt, erfüllen ihren Zweck!!! Prinzipiell gilt, daß die BAW keine dummen Fragen stellt.
Beispiel: Verhöhrsituation
Die BAW stellt eine Reihe Fragen wie: "wo hat X zu einem bestimmten Zeitpunkt gewohnt?" - Natürlich wo er gemeldet war - "wo hat X gearbeitet?" etc.
Die Zeugin überlegt angestrengt, welche Frage ihr relativ harmlos erscheint, welche nicht. Ihr Zögern, Ausweichen, ihre schnelle Antwort können der BAW Hinweise auf sie möglicherweise interessierende Punkte in der Biographie der gesuchten Person geben.
ZeugInnenbefragungen finden in der Regel als Frage und Antwort-Spiel statt. Dh. die ZeugInnen bekommen nicht einen Fragenkatalog vorgelegt, wo sie von vorneherein einen Überblick über die einzelnen Fragen und deren mögliche Bedeutung haben und eventuell in Ruhe entscheiden können, welche Frage sie beantworten. Die BAW bemüht sich um die Atmosphäre eines Gesprächs. Blockiert eine Zeugin an einzelnen Punkten dieses Gesprächs muß sie dies häufig begründen. Diese zermürbende Situation hat zB. im Falle eines Hamburger Zeugen 3 Stunden gedauert. Die wenigsten ZeugInnen werden sich nach einer solchen Prozedur noch erinnern können, welche Informationen sie dem Staatsschutz gegeben haben.
Für den eigenen Schutz!
EinE ZeugIn ist schnell BeschuldigteR
In 129a-Verfahren können ZeugInnen im Nu selbst zu Beschuldigten werden, da die Bekanntschaft mit einer verdächtigen Person jede und jeden selbst in den Kreis verdächtiger Personen kommen läßt. Dies ist in der Vergangenheit schon häufig geschehen (in RAFVerfahren).
Insbesondere mit der Verweigerung der Aussage unter Berufung auf den § 55 belastet man/frau sich selbst. Im Kern besagt dieser Paragraph, daß Antworten, die eine mögliche Selbstbelastung beinhalten, verweigert werden können.
Diese Selbstbelastung kann durchaus von BKA und BAW für künftige Verfahren erwünscht sein.
Außerdem sieht das Gesetz vor, daß jeder Bezug auf den § 55 erstmal begründet werden muß. Eine schizophrene Situation, weil das heißt, daß mit der Begründung, warum eine solche Aussage etwas mit der eigenen Person zu tun hat und belastend sein könnte, jede Menge Informationen geliefert wird.
Ob die BAW bei der jeweiligen Frage den § 55 akzeptiert, hängt von ihrer Wilikür ab: wurden viele andere Fragen beantwortet, lassen sie vielleicht eine unbeantwortete zu.
Ist eine ZeugIn bereits Beschuldigte in einem anderen Verfahren, so ergibt sich daraus noch nicht automatisch das Recht auf Aussageverweigerung nach § 55. Denn auch in diesen Fällen behalten sich die Ermittlungsbehörden die Entscheidung darüber vor, ob ein Zusammenhang zwischen den Verfahren und damit ein Aussageverweigerungsrecht besteht. Im schlimmsten Fall faßt die BAW die Berufung der ZeugIn auf den § 55 als Bestätigung der gegen sie erhobenen Vorwürfe auf.
Für die Zukunft ist noch vermehrt zu befürchten, daß die Bekanntgabe von Ermittlungsverfahren solange hinausgezögert wird, bis die ZeugInnen ihre Funktion erfüllt haben.
Aussagen schützen nicht vor weiteren Vorladungen
Die ZeugInnenvorladungen im Zusammenhang mit den Schüssen an der Starbahn West in Frankfurt zeigen: Auch Aussagen schützen nicht vor weiterer Verfolgung. Bei signalisierter Aussagebereitschaft kann eine ZeugIn immer wieder vorgeladen werden....
Das eigene Gewissen
JedeR wird sich die Frage stellen: Habe ich mich so verhalten, wie ich es richtig finde?
Bei Aussagen kann man/frau sich nie sicher sein, möglicherweise doch jemanden belastet zu haben.
Immer bleibt die Aussicht, bei einem späteren Prozeß Aussagen wiederholen zu müssen, die der Angeklagten Person möglicherweise Knast einbringen.... "
... Zu den oben genannten kommt noch hinzu, daß in Verfahren, in denen mehrere ZeugInnen geladen werden, deren gemeinsame Verweigerung der Aussage eine Spaltung der ZeugInnen in die, die keine "gefährlichen" Informationen zu bieten haben und solche, die eben etwas näher dran sind. und alleine deswegen die Aussage verweigern müssen, verhindern kann.
Zudem kann die Verweigerung der Aussage durch viele die Schwelle der BAW erhöhen, tatsichlich Beugehaft zu verhängen.
Vergessen werden sollte auch nicht, daß schon die Empörung darüber, daß dieser Staat das Recht hat, Menschen, die nicht mit dem Staatsschutz zusammen arbeiten wollen, bis zu einem halben Jahr in den Knast zu stecken, ausreichen kann, das Maul zu halten.
Was bleibt, ist die Frage nach den Gründen für die Diskrepanz zwischen Anspruch/Überzeugung und Wirklichkeit.
IN DER WIRKLICHKEIT
Politisch wird die Aussageverweigerung mit dem Kampfverhältnis der Linken zum Staat begründet.
Vergessen werden darf dabei aber nicht, daß Repression unter anderem häufig deswegen so gut greift, weil sie eben auch Leute trifft die gar kein solches Verhältnis zum Staat haben, beziehungsweise mit eskalierten repressiven Mitteln überzogen werden, die ihrer eigenen Ebene des Widerstandes/Angriffs nicht entsprechen (zB. wenn "Autonome" plötzlich von Anti-Terror-Einheiten bekämpft werden, die früher gegen die Guerilla eingesetzt wurden).
Es ist eben ein Unterschied, ob Aussageverweigerung zu einem Teil der eigenen politischen Identität wird, oder aber ob die Politisierung erst über die Konfrontation mit der staatlichen Repression beginnt. Hier sind Geduld und Einfühlungsvermögen mehr angesagt, als das Konfrontieren mit super-straighten Positionen, die letzlich dem Druck der Beugehaft, nur einen weiteren Druck, nämlich den der politischen Ansprüche. entgegenstellen.
Es erscheint unwahrscheinlich, daß ein, solchermaßen im Schnellverfahren "überzeugter" (funktionalisierter?) Mensch Monate Knast durchstehen würde.
Aus Erfahrung wissen wir auch, daß die Bereitschaft zu Aussagen umso größer ist, je mehr Diskrepanz zu den verfolgten Inhalten oder Taten besteht (zB. Startbahn) bzw. je heftiger die Vorwürfe sind (zB. Kaindl-Verfahren), dem etwas entgegenzusetzen scheint häufig fast aussichtslos.
Zudem werden viele Menschen sehr unvorbereitet mit der Verhörsituation konfrontiert und reagieren dann aus Angst und Überforderung anders, als sie es vielleicht eigentlich beabsichtigt hatten....
Die Aussageverweigerungskampagne läßt sich nicht konsumieren, sie ist immer nur so stark wie die ernstgemeinte konsequente und gemeinsame Auseinandersetzung mit diesem Thema, die ja erst ermöglicht, daß die einzelnen sich entsprechend verhalten...
DER PREIS
Hierzu nochmal einen Abschnitt aus der Bochumer Broschüre:
"Die Repressionsmöglichkeit der Beugehaft trifft jeden EinzelneN in ihrer gesamten Lebenssituation:
Sie/er ist nicht nur mal eben ein halbes Jahr weg vom Fenster, sondern sie hat weitreichende Konsequenzen zu tragen. An diesem Punkt stellt sich die Frage nach der Verhältnismäßigkeit zwischen dem Preis, der für die Verweigerung zu zahlen ist (nämlich Knast) und dem Schaden, den eine Aussage anrichten kann. Es gibt kein Patentrezept, was diese Frage eindeutig lösen könnte, denn jedeR ZeugIn ist in einer unterschiedlichen Situation, was ihre persönliche Lebensituation und den möglichen, von ihr/ihm gestifteten Schaden angeht."
Auch wenn wir meinen, daß jede nicht gemachte Aussage ein Gewinn ist, können wir die anfangs aufgeführten Argumente für Aussageverweigerung nicht einfach jeder individuellen Lebensituation überstülpen.
... Wir können die Entscheidung keineR abnehmen, ob sie/er letztlich bereit ist, die Gefahr auf sich zu nehmen, bis zu einem halben Jahr in den Knast zu gehen.
Wir können nur die Grundlagen, auf denen diese Entscheidung gefällt wird, zumindest zu einem Teil verändern:
Dazu gehört als allererstes ein solidarisches und genaues Diskussionsklima, in dem Ängste und Zweifel offen geäußert werden können. Das heißt nicht, die Richtigkeit der Aussageverweigerung zu bezweifeln, sondern anzuerkennen, daß der Staat ieser Verweigerung einen hohen Preis abverlangen kann, den nicht immer jede und jeder zahlen kann.
Zudem liegt es in der Verantwortung der Linken, zumindest die materiellen Kosten der Aussageverweigerung für die einzelnen gemeinsam zu tragen ... und nicht zuletzt ist es unsere politische Verantwortung, nicht nur für Aussageverweigerung zu streiten, sondern auch für die Abschaffung der Beugehaft als Mittel, den verordneten Denuziationszwang durchzusetzen, zu kämpfen...
Aussageverweigerung bleibt eine konkrete Handlungsmöglichkeit, den § 129a ins Leere laufen zu lassen!
Laßt uns die Bedingungen schaffen, daß möglichst viele Männer und Frauen diesen Weg gehen können!
Ilse Schwipper (geb. 1937) wurde im Juni 1971 erstmals wegen militanten Aktionen gegen den Vietnam-Krieg verhaftet. Bis Ende 1973 saß sie in Isolationshaft in Vechta. Nach der Haftentlassung wurde sie im August 1974 erneut inhaftiert. Ihr wurde die Beteiligung an der Ermordung des Berliner Verfassungsschutz-Mitarbeiters Ullrich Schmücker durch das Kommando 'Schwarzer Juni' aus der 'Bewegung 2. Juni' unterstellt. Nach 17 Jahren endete der 'Schmücker-Prozeß' im Januar 1991 mit einer Verfahrenseinstellung, die im November 1991 rechtskräftig wurde. Insgesamt hat Ilse Schwipper 7 3/4 Jahre wegen dieser Anklage in Untersuchungshaft gesessen. Im Mai 1982 wurde sie wegen Haftunfähigkeit vorzeitig aus dem Gefängnis entlassen. Heute lebt sie in Berlin und arbeitet hauptsächlich in anarcha-feministischen Zusammenhängen. Sie ist Mitautorin des Buches "Bei lebendigem Leib. Von Stammheim zu den F-Typ-Zellen. Gefängnissystem und Gefangenenwiderstand in der Türkei".
Graswurzelrevolution (GWR): Sie sind 1969 als 32jährige in die SPD eingetreten. Anfang 1970 hat die SPD Sie wegen "parteischädigendem Verhalten" ausgeschlossen. Wie kam es dazu und was war mit "parteischädigendem Verhalten" gemeint?
Ilse Schwipper: In Niedersachsen gab es im Frühjahr 1970 Landtagswahlen, an denen die DKP teilnehmen wollte. Um das zu können, brauchten sie 40.000 Unterschriften. Jungsozialisten aus Wolfsburg, u.a. ich, haben diese Unterschriften gesammelt. Für die "Mutterpartei SPD" war das Anlass genug, trotz ihrer Propaganda "mehr Demokratie wagen" 19 Jusos auszuschließen wegen parteischädigenden Verhalten. Für meine Begriffe war das aber einzig ein Vorwand, weil die Wolfsburger Jungsozialisten, deren zweite Vorsitzende ich war, für die damalige Zeit sehr revolutionär agierte.
GWR: Anfang der 70er Jahre beteiligten Sie sich an militanten Aktionen der "Bewegung 2. Juni". Wie erklären Sie sich Ihre damalige Entwicklung von der "Sozialdemokratin" zur Stadtguerillera? Können Sie diese Entwicklung skizzieren?
Ilse Schwipper: Die Frage ist nicht ganz richtig. Zu dem Zeitpunkt haben Wolfsburger das Konzept Stadtguerilla diskutiert, waren aber nie an Aktionen der Bewegung 2. Juni beteiligt. Die Wolfsburger waren eine eigenständige Gruppe, die in der K3 lebten (später Bäckergasse 2). Unsere Auseinandersetzungen mit den verschiedenen Konzepten beinhalteten allerdings eine Nähe eher zur Bewegung 2. Juni als zur RAF. Einzelne Aktionen aufzuzählen, die damals von der Gruppe gemacht wurden, halte ich für unangebracht.
Ich war nie Sozialdemokratin. Von meiner familiären Geschichte her, war ich Anarchistin. Repressive Erfahrungen nicht nur mit der SPD sondern auch mit Polizei und dem was staatliche Institutionen generell ausmachen, haben mich immer radikaler werden lassen.GWR: 1977 sorgte ein Artikel des Göttinger "Mescalero", in dem er sich aus libertärer Sicht kritisch mit der Politik des Staates und der Stadtguerilla auseinander setzte, für Aufsehen. In dem 1977er Graswurzelrevolution-Positionspapier "Feldzüge für ein sauberes Deutschland" (siehe: www.graswurzel.net) ging es im Anschluss an eine gewaltfrei-anarchistische Kritik sowohl der staatlichen Gewalt als auch der RAF-Politik um die Begründung direkter gewaltfreier Aktionen. Wie wurde die Kritik des Mescalero und anderer gewaltfreier AnarchistInnen damals von den Stadtguerillas aufgenommen? Gab es dazu Diskussionen?
Ilse Schwipper: Das Graswurzelpapier ist nicht bis zu mir vorgedrungen, wobei ich nicht weiß, ob es zu den damals oftmals beschlagnahmten Dingen gehörte. Ob andere Gefangene an dem Papier diskutiert haben, entzieht sich meiner Kenntnis. Allerdings konnte ich dem Mescalero-Papier nicht sehr viel abgewinnen, da ich es von Hause aus albern finde, sich klammheimlich zu freuen. Ähnlich geht es mir bei Diskussionen zur Frage der Gewalt oder Gewaltfreiheit, weil ich denke, dass andere Diskussionen in einer global repressiven Welt voller Kriege wichtiger sind.
GWR: Wie sehen Sie die Politik der Stadtguerilla aus heutiger Perspektive?
Ilse Schwipper: Im Rückblick und an Hand der Tatsache, dass ich eine relative Geschichtsaufarbeitung hinter mir habe, kann ich nur sagen, dass die Politik der Stadtguerilla eine richtige war. Zumal sich die gesamte amnestierte Studentenschaft auf Karrieretrip begab. Stadtguerilla war weltweit der Versuch, ein gerechtes, menschenwürdiges Gesellschaftsgefüge zu beginnen. Dass die Niederlage so bitter sein würde, konnte zum damaligen Zeitpunkt niemand ahnen. Für die Einzelnen war es nicht nur eine wichtige Erfahrung sondern mit dem Versuch, das Private zum Politischen zu machen gesellschaftliche Verhältnisse revolutionär zu verändern.
Der Slogan der Musikgruppe Ton-Steine-Scherben: 'Macht kaputt, was Euch kaputt macht' wurde sehr ernst genommen.GWR: Viele Menschen können sich nicht vorstellen, dass im "Rechtsstaat" Bundesrepublik Menschen (durch Isolation) gefoltert wurden und werden. Wie haben Sie Ihre eigene Isolation erlebt? Unter welchen Bedingungen waren Sie inhaftiert?
Ilse Schwipper: Es ist schwierig, in einem Interview darauf ausführlich zu antworten. Bevor ich es versuche, gleich eine Buchempfehlung, in dem es ausführlich um die Entwicklung von Isolationshaft - besser bekannt als weiße Folter - geht. Der Titel: "Bei lebendigem Leib", erschienen im Unrast-Verlag.
Meine Haftbedingungen waren von insgesamt fast 12 Jahren 6,5 Jahre Isolationshaft mit allen Merkmalen der Weißen Folter. Stündliche Nachtkontrollen (ist Schlafentzug), Fliegengitter vor dem Normalgitter (zu wenig Sauerstoffaustausch), ständige Kontrollen und Zellenwechsel (Stress - Orientierungslosigkeit - nie heimisch werden), nirgendwo teilnehmen, also Ausschluss vom Anstaltsleben (Reizentzug), Trennung von jeglichen Gemeinschaftsveranstaltungen, Arbeitsverbot, Berührungsverbot bei Besuchen, häufiger Zellenwechsel, tägliche Zellendurchsuchungen und überfallartige nächtliche "Besuche" vom Staatsschutz. Außerdem bei jedem Zellenverlassen gründliche körperliche Durchsuchung. Schikanöse Postzensur und vielfache Nichtaushändigung von Publikationen. Was auch eine Rolle spielt, ist der Farbanstrich der Zellen. Das ist ein nicht definierbares gelb/weiß. Die Möbel sind nur um Nuancen dunkler, was über Jahre bedeutet, dass klare Konturen im Blick (Auge) verschwinden. Die Auswirkungen grundsätzlich sind: Erschöpfungszustände, Depressionen, Venenerkrankungen, Kreislaufprobleme, Magen-Darmprobleme, Kopfschmerzen, Konzentrationsschwächen und Gedächtnisausfall - Tinitus. Diese Haftbedingungen haben zu schweren körperlichen und seelischen Erkrankungen geführt, so dass ich am 2.Mai um 15.15 Uhr, 1982 schwerkrank als haftunfähig entlassen wurde. Bis zum heutigen Tag habe ich oft mit den Spätfolgen zu kämpfen.GWR: In Stammheim und anderen Isolationsgefängnissen sitzen immer noch politische Gefangene. Wie ist ihre Situation heute?
Ilse Schwipper: So weit mir das bekannt ist, sind die Bedingungen im Großen und Ganzen nicht geändert. Bei einzelnen Gefangenen hat es geringfügige Haftverbesserungen gegeben, die aber meiner Meinung nach an der Gesamtrepression wenig ändern. Die Gefangenen sollten bedingungslos freigelassen werden. Das aber gilt für alle revolutionären Gefangenen weltweit.
GWR: Am 20. Oktober 2000 sind ca. 2.000 politische Gefangene in türkischen Gefängnissen in einen Hungerstreik getreten. Sie wehren sich gegen die Verlegung in neugebaute F-Typ-Isolationsgefängnisse, in denen sie der Willkür der Wärter ausgesetzt sind und unter der weißen Folter leiden. Nachdem ihre Forderungen nicht gehört wurden, wandelten sie ihren Hungerstreik in ein "Todesfasten" um. Diese Verweigerung der Nahrung forderte inzwischen mehr als 90 Opfer.
Wie erklären Sie Sich, dass sich nur wenige Menschen in der Türkei und in Europa mit den Gefangenen solidarisieren?Ilse Schwipper: Abgesehen von der Tatsache, dass vielen Menschen solch konsequenter Kampf Angst macht, gibt es zur Zeit keine revolutionäre Gefangenenbewegung, die diesen Kampf unterstützten könnte. Einzelne Gruppen und Einzelpersonen, die auf verschiedene Arten den Kampf unterstützt haben und auch heute noch unterstützen, haben es seit dem 11. September 2001 nicht einfach. Vielfach wird dieses Todesfasten mit Selbstmordaktionen gleichgesetzt. Übersehen wird dabei, dass es einzig und alleine an den jeweiligen Regierungen liegt, wie mit Gefangenen umgegangen wird. Zum anderen ist es auch eine Tatsache, dass sich europaweit die "Linke" anderen Themen zuwendet, wie z.B. dem globalisierten Turbokapitalismus ohne zu begreifen, dass Inhaftierungen jeder Zeit unter genau diesen Weiße Folter-Bedingungen für jeden möglich sind. (Siehe Seattle, Göteborg, Genua).
GWR: Wie lässt sich gegen die Isolationsfolter eine Kampagne organisieren?
Ilse Schwipper: Eigentlich wie jede Kampagne über sämtliche linke Medien Öffentlichkeit herstellen, unter Einbezug auch der bürgerlichen Medien. Tatsache ist aber, dass dieser Kampf der türkischen Gefangenen weitgehend totgeschwiegen wird.
Es hat ja nicht nur einen Kongress organisiert von Tayad (Verein der Angehörigen von politischen Gefangenen) gegeben, sondern häufiger Delegationen zum Schutz der Angehörigen, die sich ebenfalls im Hungerstreik und Todesfasten befanden und befinden. Auch die internationalen Delegationen konnten keine relevante Bewegung initiieren. In Berlin, Hamburg und Köln hat es Ende 2001 auf öffentlichen Plätzen Solidaritätshungerstreiks und Veranstaltungen gegeben, die ebenfalls keine Massenbewegung hervorbrachten. Bis heute weigert sich die türkische Regierung die Isolationsgefängnisse nach dem deutschen Modell abzuschaffen. Nicht einmal die Minimalforderung des Zusammenschlusses einzelner Gefangener untereinander ist verwirklicht.GWR: Das Buch "Bei lebendigem Leib" will "mit dazu beitragen, dass die Frage von politischer Gefangenschaft und Solidarität in der Linken wieder diskutiert wird." Ihr Artikel ist bewegend und beschreibt "Das Isolationszellensystem als wissenschaftliches Forschungsprojekt". Was ist Ihnen besonders wichtig?
Ilse Schwipper: Mir ist wichtig, dass wieder ein Bewusstsein dafür geschaffen wird, dass Isolationsgefängnisse mit der Methode Weiße Folter ein Mittel der Bekämpfung des politischen Gegners ist.
Mir ist wichtig, dass heute kämpfende Menschen eine realistische Einschätzung der Situation weltweit behalten. Mir ist wichtig, dass sich wieder mehr internationale Solidarität entwickelt, und die Grabenkämpfe unter den Linken aufhören.GWR: Viele einst politisch engagierte Menschen haben resigniert, sich angepasst und entpolitisiert. Sie machen dagegen einen engagierten und hoffnungsvollen Eindruck. Welche politischen Perspektiven sehen Sie?
Ilse Schwipper: Ich träume noch immer von der Revolution.
"Eine Wirtschaftspolitik, die die Entwicklung der jungen Biotech-Unternehmen stabilisiert."Also genau solche Unternehmen, in deren Aufsichtsräten er sitzt und von denen er bezahlt wird.
"Der VEAG/LAUBAG-Erwerb durch HEW ist ein großer Schritt zur vierten Kraft der Stromwirtschaft"feiert da der Abgeordnete Schultz und macht klar, dass es
"wichtig ist, dass die Politik dem neuen Unternehmen zu einem guten Start verhilft".
"Der schwedische Vattenfall-Konzern hat da wesentlich mehr vorzuweisen... Die Schweden haben sich da mehr Mühe gegeben."
... und es ist natürlich nur ein erster Schritt ...
Madeleine: 1994 bin ich mit 14 Jahren über meinen damaligen Freund bei der Jugendorganisation der Sozialistischen Partei gelandet. Ich wollte mich politisch engagieren und hatte gedacht, er sei in der Jugendorganisation der Kommunistischen Partei. So bin ich durch Zufall in die Sozialistische Partei eingetreten und zwei Jahre lang geblieben. Mit 16 war mir dann klar, daß ich mit denen überhaupt nicht einverstanden war: eine große, autoritäre Partei, die zudem an der Regierung war! Zu der Zeit war ich im Gymnasium, und wir haben spontan mit anderen Freunden zusammen eine Zeitung gemacht und eine Schülergewerkschaftsgruppe gegründet, um uns den Streiks der Studenten anzuschließen. In diese Zeit fiel der '95er Generalstreik, das Wort hab ich damals zum ersten Mal gehört, ich war aber noch zu jung, um mich dem anzuschließen. Im Nachhinein habe ich gemerkt, welch große Rolle dieser Generalstreik gespielt hat: alle jungen Leute, die ich danach getroffen habe, haben '95 am Streik teilgenommen.
1997, mit 17, bin ich zum Studium in eine andere Stadt gegangen. Dort wollte ich eigentlich in die Jugendorganisation der LCR eintreten, die JCR [rev. komm. Jugend], da sind nicht die Arbeiter, die sind bei der LO, sondern die Lehrer, die Funktionäre usw. - aber mein Freund hat zu der Zeit gerade die JCR mit derselben Kritik verlassen: autoritäre Strukturen usw.; so mußte ich diese Erfahrung nicht zweimal machen. Wir haben dann mit ein paar Freunden eine Studentengewerkschaftsgruppe gegründet, um einen Streik an der Uni zu organisieren; wir waren alle noch jung und ziemlich neu da, deshalb hatten wir wie bei jedem Studentenstreik - in Frankreich gibt es fast jedes Jahr einen - die Illusion: diesmal werden wir die Uni wirklich ändern! Wir haben [1998] sehr lange gestreikt, sechs Monate lang in der Uni geschlafen, mit großer Beteiligung usw. Es ging gegen die Privatisierung der Uni. Am Ende waren wir sehr frustriert; wir hatten die anderen Gewerkschaftsgruppen und ihr Spiel mit den Parteien kennengelernt; die sind stark verbandelt, kriegen Geld von der Partei, nur Gruppen, die zu einer Partei gehören, können mit dem Minister diskutieren usw. Das war ein weiterer Schritt in meiner Position zu Institutionen, der Kollaboration usw.
Am Ende des Streiks hatten wir deshalb viele Ideen. Wir wollten eine feministische und anti-homophobe Gruppe aufbauen, weil während des Streiks vieles passiert war, das uns zu der Überzeugung gebracht hatte, daß so eine Aktivität nötig sei. Zweitens haben wir gedacht, 'Kämpfen ist nicht genug', es ist problematisch, wenn die Studenten nur für sich kämpfen; wir wollten also mehr sprechen und nachdenken, und das mit anderen zusammen. Infos finden, um zu verstehen, was wir tun, und nicht nur auf der Straße sein. Deshalb haben wir mehrere Arbeitsgruppen gegründet, hauptsächlich zur Kritik der kapitalistischen Universität, aber auch zur Frage: wie können wir unseren Kampf mit den Arbeitern zusammen führen? Während des Streiks hatten wir uns dieser neuen Gewerkschaft SUD angeschlossen und eine Studentensektion aufgebaut. SUD ist zwar die übliche »geheime« Trotzkistengründung, aber interesssant ist, daß sie neue Methoden anwenden: direkte Aktionen wie Hausbesetzungen, Blockadeaktionen, ein bißchen Sachschaden. Und das hat uns wirklich interessiert, diese neuen Methoden, die Kreativität in der Sprache usw. Die Fernfahrer und andere Arbeiter von SUD haben uns während des Streiks auch geholfen; z.B. haben wir mit ihrer Hilfe in einer Nacht ein Haus auf das Campusgelände gebaut, um zu zeigen »wir sind da!«
Ich fand es interessant, daß wir ganz viele Leute waren, die sich im Streik politisiert haben und vorher keine Aktivisten gewesen waren. Im Endeffekt haben wir die feministische Gruppe gegründet und im Mai 1999 ein Festival mit Aktionen, Debatten, Filmen usw. organisiert. Um auf lokaler Ebene andere Leute kennenzulernen, haben wir v.a. Kontakt zu Assoziationen aufgenommen, zu Leuten, die sich zu Energie, Industrie, Verkehr, Frauen, Migranten usw. engagieren. Mit denen zusammen haben wir das Festival organisiert.
Das erstemal war nicht so gut, sehr schnell organisiert, nicht so viel Publikum usw., aber es war interessant und wir hatten so viele Kontakte gekriegt, daß wir uns entschieden haben, eine richtige Organisation nur für das Festival aufzubauen; das läuft seither jährlich und dadurch haben wir sehr viele Leute aus vielen unterschiedlichen Milieus kennengelernt: aus der Antiglobalisierungsbewegung, aus besetzten Häusern... Von da an gab es eine komische Mischung bei uns zwischen einer Radikalisierung des politischen Bewußtseins und der praktischen Methoden (die werden direkter, konfrontativer, auch illegal) - die zweite Richtung war: immer mehr Kreativität; Kunststudenten, Leute, die tanzten, Malereien, auch mit einer Kritik der Kunst als Institution und als Begriff.
Das Festival dauert eine Woche, im Rest des Jahres bereiten wir es vor oder ziehen Resümee. Außerdem laufen in Frankreich immer irgendwelche Arbeiterkämpfe oder andere Bewegungen, an denen wir aus Solidarität teilnehmen. Wir arbeiten auch zu speziellen Themen wie z.B. »kostenloser Transport« (Null-Tarif) und machen dazu auch Aktionen. Es gibt viele neue Gruppen zu unterschiedlichen Themen; es gibt verschiedene Zeitungen, andere organisieren Alternativkonzerte, ein Haus hat sich zum Anti-Psychiatriezentrum erklärt, usw.. Viele von uns haben ihr Studium unterbrochen, wir reisen sehr viel. Ganz wichtig ist, daß wir ein Netz von Freunden geworden sind, daß aus einem Hobby ein Leben geworden ist; viele Leute sind rund um die Uhr aktiv, viele leben in besetzten Häusern zusammen.
Nach dem ersten Festival sind wir aus SUD rausgegangen, wir hielten es für unmöglich, weiterhin in dieser pseudotrotzkistischen Gewerkschaft zu bleiben, wenn viele Leute aufs Festival kamen, die anarchistisch beeinflußt waren oder sonstwie mit dem Trotzkismus nichts anfangen konnten. Wir haben auch unser eigenes Verständnis geändert. Deshalb haben wir eine eigenständige Gruppe aufgebaut, die keine Verbindung mehr zu SUD hat.
Ich habe in der Zeit auch noch spezielle Sachen gemacht; ich hab mich mit Freunden zusammen auf die Antiglob-Bewegung konzentriert. In Prag haben wir die Repression erlebt, und seither beschäftige ich mich besonders mit Fragen der Kriminalisierung, der Sozialkontrolle, der Repression usw.; ansonsten nehme ich in einem geografisch weiter gespannten Netz teil, wir machen Treffen und diskutieren über Texte; und solche Aktionen wie die antikapitalistische Karawane vor und nach Prag im September 2000. Zur Zeit arbeiten wir besonders zum No-Border-Camp.
Wir streiten v.a. über Industrialisierung und Naturalismus; manche beziehen sich sehr auf die Kämpfe im Süden der Erde, auf die Problematik Stadt/Land, Süd/Nord usw. - gegen die Multis, gegen gentechnisch veränderte Lebensmittel, Alternativenergie usw. ...
Es gibt viele Leute, die in unterschiedlichen Netzen organisiert sind, die sich treffen; ich kann nicht sagen, wie viele das sind und ob sie eine starke Bewegung sind, sicherlich sind das viele Leute, die sich wirklich treffen - die Informationen gehen sehr schnell rum; aber es gibt keine nationalen Kongresse oder so, und die allgemeine Stimmung ist auch so, daß wir so was nicht brauchen; wir wollen autonom bleiben, unsere eigenen Orte haben, die lokalen und globalen Thematiken miteinander verbinden, schnell reagieren können, aber in unseren Vierteln, unseren Städten und Dörfern lokal weiterkommen. Und natürlich brauchen wir auch frontale Kämpfe, wie soll ich sagen - »Klassenkämpfe« -, aber man braucht auch diese zweite, alternative Schiene: das eigene Leben ändern, kleine Alternativen entwickeln als Beispiele, daß etwas anderes möglich ist.
Wir sind gut organisiert, mehr an Organisationsstrukturen brauchen wir nicht. Manchmal haben wir Wandzeitungen gleichzeitig in mehreren Städten gemacht und dafür haben wir keine Organisation und keine Zentrale in Paris gebraucht, die gesagt hätte »macht das!«. Wir haben natürlich ständig Streit über unsere Organisierung, daß es zuviel Hierarchie gebe usw.; aber für mich gehört das zu den täglichen Auseinandersetzungen, man braucht das nicht zu dramatisieren. Die »gut organisierten« Trotzkisten mit ihrer Omnipräsenz - die gehen überall hin und mischen sich ein - sind für mich ein abschreckendes Beispiel. Sie haben Antworten auf alle Fragen, deshalb können die anderen Leute sich nicht selbst entwickeln. Die hauptberuflichen Aktivisten geben alles vor, du hast kaum Möglichkeiten, dich selber (intellektuell) aktiv zu fühlen, das ist genauso wie mit Attac. Die Trotzkisten sind heute überall: die sind SUD, die sind Attac, die sind Porto Alegre ...
Fritz: Mitte der 90er Jahre, etwa mit 15, hab ich angefangen, mich für Einpunktthemen zu interessieren: Umweltschutz, Krieg, Ausländer, Nazis, soziale Themen ... Ich bin mit Freunden zu Demos gegangen, hab Transparente gemalt usw. Dann bin ich mit Leuten aus dem ML-Spektrum in Kontakt gekommen und so habe ich mich mit Marx und Lenin auseinandergesetzt. Irgendwann hab ich mich von den Sachen auch wieder mehr distanziert, weil da zwar gute Ansätze vorhanden sind, aber ich gerade den Leninismus mit seiner Auffassung, daß die Leute angeführt werden müssen, doch nicht so gut finde. Für mich steht der selbstorganisatorische Ansatz im Vordergrund, die Leute müssen selber aktiv werden, selbst die Macht haben. Auch wenn es vielleicht Leute gibt, die sich mehr mit der Materie beschäftigt haben und gewisse Impulse geben können, aber das darf nicht so ausarten, daß die dann die anderen Leute beherrschen. Ich hab mehr und mehr die Illusionen verloren, daß es sinnvoll sein könnte, die PDS beim Wahlkampf zu unterstützen, oder reformistische Forderungen zu übernehmen, um die Leute anzusprechen. Ich hab gemerkt, daß alles im Gesamtzusammenhang Kapitalismus steht und daß es Veränderungen nur aufgrund von sozialen Protesten gibt und nicht von Parteiaktionen, auch wenn Verbesserungen im Kapitalismus immer nur im kleinen Umfang möglich sind.
Zum Studium bin ich dann nach Berlin gezogen. Da war mein Interesse für Leute und Gruppen schon geweckt, die das Ganze in Frage stellen, und ich bin zur linksradikalen Szene gestoßen. Dann kamen die ganzen Antiglobalisierungsproteste, das war für mich ein positiver Bezugspunkt, weil sich Leute selber organisieren, weil da ein Potential von Leuten ist, die gemerkt haben, daß sie selber - sozial, durch Kriege, durch Umweltveränderungen - vom Kapitalismus betroffen sind. Nach Seattle bin ich dann gezielt zu einer solchen Gruppe gegangen. Wir haben zu den nächsten Gipfeln mobilisiert, Göteborg, Genua usw. Ich wollte nicht mehr irgendwelchen Sachen hinterherlaufen - wie z.B. Antifa, wo Kapitalismus höchstens am Rande thematisiert wird - sondern etwas machen, wo man radikale Kritik am System äußern kann. Eins unserer Hauptziele ist, vor allem normale Leute zu erreichen, die noch nicht so politisch sind und denen auch die Brüche aufzuzeigen, weil die Leute in ihrem Leben vom Kapitalismus betroffen sind und sich auch immer wieder ärgern - da müssen Revolutionäre ansetzen. Unsere Kritik an den klassischen Autonomen ist, daß sie stark subjektiv handeln, aber nicht unbedingt den Gesamtkontext sehen, daß sie sehr theoriefeindlich sind, sich inhaltlich nicht fortbilden, in ihrem Szeneghetto bleiben und nicht versuchen, auf normale Leute zuzugehen.
Es gab starke Mobilisierungen, es haben viele Leute an Genua und anderen Gipfeln teilgenommen, aber es ist immer noch ein relativ kleiner Kreis, der kontinuierlich dazu arbeitet und sich - so wie wir - als feste Gruppe organisiert und regelmäßig trifft. Wir machen Org-Kram und Soli-Geschichten, organisieren Konzerte, um uns zu finanzieren. Inhaltlich versuchen wir, nach den Aktionen Resümee zu ziehen, und wir beschäftigen uns mit bestimmten Themen, wie Argentinien oder was auf den Gipfeln besprochen wird. Nach außen kommt so was, wenn wir z.B. zu 'nem Gipfel mobilisieren, dann gibt's 'n Aufruf und dann müssen irgendwelche Inhalte stehen, die haben wir vorher in irgendeiner Form diskutiert.
Wir hatten mit dieser klassischen Gipfelmobilisierung angefangen und dazu unsere Propaganda gemacht: Aufrufe, Internet, Flugis, Pressearbeit, Plakate, Veranstaltungen usw. Wir haben auch immer aufgezeigt, was auf den Gipfeln besprochen wird, welche Leute sich da treffen. Um zu zeigen, wohin diese Politik führt und in welchem Kontext sie steht. Wir haben es auf jeden Fall inhaltlich thematisiert. Aber vielen Leuten ist es wahrscheinlich egal, wer sich da genau trifft; das sind halt irgendwelche Politiker, ob die nun Krieg, Sozialabbau oder sonst was besprechen; man ist generell gegen Kapitalismus, und fährt deswegen hin. Es waren schon ne Menge Leute auf den Gipfeln, die den Kapitalismus nicht verbessern, sondern insgesamt abschaffen wollen. Das kam ja nach Göteborg und Genua sogar in den bürgerlichen Medien durch. Für uns als Gruppe war das die Hauptmotivation: wir wollen das System an sich in Frage stellen und den Leuten aufzeigen, wie Kapitalismus funktioniert.
Wir haben recht schnell gemerkt, daß es nicht dabei bleiben kann, daß es keine Perspektive ist, von einem Gipfel zum anderen zu reisen. Die meisten Leute in unserer Gruppe waren vorher schon aktiv und so war es relativ schnell klar, daß wir auch vor Ort was machen wollen. Umweltzerstörung, Krieg, Armut, oder auch konkret auf Berlin bezogen und das in den Gesamtzusammenhang Kapitalismus gestellt. In Berlin gab es auch ein paar Projekte, die Proteste nach Göteborg und Genua, global action days, das soziale Zentrum oder die soziale consulta, damit wollten wir einen Anlaufpunkt für Interessierte schaffen. Es gibt auch ein Projekt, das sich mit dem Thema Lohnarbeit auseinandersetzt... Manche Leute sind auch in anderen Gruppen aktiv und machen ohnehin vor Ort etwas, weil es letztenendes auch das einzige ist, was Sinn macht. Politik fängt konkret im eigenen Leben an. Es geht uns weniger um Globalisierung, sondern wir sind gegen Kapitalismus an sich, wir wollen eine herrschaftsfreie Gesellschaft und das ist im Kapitalismus nicht möglich. Wenn ich nur irgendwo hinfahre und protestiere, droht meine Politik abstrakt zu bleiben. Wir fordern die Leute ja auch immer auf, daß sie sich selber oder in bestehenden Strukturen organisieren.
Nach Genua gab es eine Zeitlang den Hype einer neuen Bewegung. Es haben sich einige neue Gruppen gebildet, das ist ein langwieriger Prozeß, eine Entwicklung. Aber es ist was in Gang gekommen, es befassen sich Leute mit der Thematik, einige organisieren sich, z.B. haben auch Antifa-Gruppen aufgrund von Genua angefangen, sich mit der Thematik auseinanderzusetzen. Andererseits war nach Genua ein gewisses Loch da, vor allem weil die Leute, die das aktiv organisiert haben, relativ wenige waren. Nach Barcelona ist sehr wenig mobilisiert worden. Ich denk, das hängt auch damit zusammen, daß die Presse das nach Genua nicht mehr so gepusht hat und daß auch nicht mehr so viel passiert ist (in Brüssel z.B.).
M: Das ist diesselbe Entwicklung wie bei uns. Man hat das Gefühl, mehr über eine kollektive Strategie sprechen zu müssen, um zu wissen, wofür man die Sachen macht. Es wird komplizierter, zu Demos aufzurufen, weil wir nicht mehr wissen, wozu wir aufrufen. Ist es noch strategisch interessant, Blockaden zu machen mit vielen Leuten, sich der Repression auszussetzen, wenn wir das Überraschungsmoment verloren haben? Diese Diskussion läuft gerade bei uns, und deshalb zweifeln die Leute auch für sich selber: sollen sie selber weiterhin auf solche Demos gehen? Und dann wird es schwierig, andere Leute hin zu mobilisieren. Für mich hat die Frage schon nach Prag angefangen. Wir hatten im Vorfeld sehr viel gearbeitet, viel organisiert, und nach dem Gipfel hatte man das Gefühl, jetzt ist vielleicht Schluß mit den Mobilisierungen. Es könnte sinnvoll sein, weiterhin zu solchen Events zu fahren, weil man dort neue, junge Leute kennenlernt - aber die Zweifel überwiegen seit Prag, und das hat mit der Frage zu tun: wie kriegen wir die globalen Mobilisierungen lokal auf die Erde?
F: Ein weiterer Punkt ist, daß ein Gipfel nach dem anderen stattfindet, man kann doch nicht alle zwei Monate zu einem Gipfel mobilisieren! Wir wollen uns nicht in blindem Aktionismus verzetteln, sondern die Sache vernünftig vorbereiten und uns auch mit den Leuten vor Ort austauschen usw.
W: Inwiefern haben die Mobilisierungen euer Leben verändert?
F: Die Bewegung hat mein Verhältnis zu Lohnarbeit, wie ich mein eigenes Leben gestalte, ob ich Karriere mache, verändert. Da hab ich mir Gedanken gemacht und einiges geändert. Das Thema Globalisierung macht es möglich, mit vielen Leuten über alles zu reden, und so was wie in Argentinien ist motivierend und zeigt Möglichkeiten auf, wie sich die Leute organisieren, wie sich die Kämpfe entwickeln. Da kann man Erfahrungen draus ziehen.
M: Für mich ist wichtig, wie wir weiter »vor Ort« eingreifen können und zweitens wie wir uns selbst weiterentwickeln und unsere Vorstellungen genauer machen können. Es wird langsam deutlich, daß wir eine »Strategie« brauchen: was machen wir wozu? Ich selber habe mich stärker in die Entwicklung von Netzwerken gehängt, den Austausch mit anderen Formen der Bewegung: was ist der gemeinsame Punkt, worüber können wir größer werden, mehr Stärke für den Kampf gewinnen? Es gibt eine große Spannung zwischen den beiden Richtungen (alternativ/autonom vs. strategisch/frontaler Kampf), aber ich denke, das ist immer so. Es gibt eine Spannung zwischen Kleingruppe (Affinitätsgruppe) und Massenbewegung. In meinen Kreisen tendieren die Leute mehr zu affinitären Methoden, aber weil es in Frankreich ständig Streiks und große Massenbewegungen gibt, bleibt auch dieser Gedanke trotz allem prägend und die Leute sehen immer wieder, daß es gut ist, mit so vielen Leuten auf der Straße zu sein, daß ein kollektives Gedächtnis wichtig ist usw. Die Debatte bleibt offen darüber, welche Rolle wir als kleine Gruppe in einer solchen Massenbewegung spielen könnten.
C: Wovon leben die Leute, mit denen du zusammen bist?
M: Sie haben oft studiert oder hatten sogar einen Job; dann haben sie Häuser besetzt, ihr Studium unterbrochen oder ihren Job hingeschmissen. Sie haben im Moment keine Möglichkeit, an gut bezahlte Jobs ranzukommen, brauchen aber auch nicht soviel Geld, weil sie viel selber machen usw..
F: Bei uns haben die meisten Leute ihre Priorität schon mehr aufs Leben gesetzt als auf den Konsum, haben kein dickes Auto, das sie unterhalten müssen oder so. Entweder studieren sie noch und kriegen Bafög oder Geld von ihren Eltern, oder sie jobben, oder sie grasen staatliche Stellen ab (Sozialamt, Arbeitsamt o.ä.).
Z: Redet ihr darüber, woher das Geld kommt?
F: Nicht so detailliert. Die meisten schlagen sich halt so durch, so n richtig geregelten Job hat glaub ich keiner. Wenn ich 40 Stunden die Woche arbeite, hab ich nix mehr vom Leben. Wir leben nicht als Gruppe zusammen, aber die meisten leben in WGs, besetzten Häusern und Wagenburgen.
M: Das ist genauso wie bei uns mit dem Problem Arbeitengehen und Geld. Viele haben nur noch einen Studentenstatus, um leicht an Jobs ranzukommen. Als Gruppe lebt man auch viel billiger: wir zahlen keine Miete, wir kriegen das Brot umsonst, auf dem Markt kriegen wir das Obst billiger usw. Wenn von zehn Leuten in einem besetzten Haus zwei oder drei arbeiten, reicht das Geld zum Leben.
Z: Bei uns in den besetzten Häusern hat jeder sein Geld selber behalten ...
M: Auch bei uns wird nicht alles geteilt. Wenn die Leute nicht wollen, können sie ihr Geld auch behalten. Aber real geben ein paar Leute, die mehr verdienen, einen Teil ihres Geldes für die Allgemeinheit ab. Oder diejenigen, die arbeiten, geben mehr Geld, weil sie weniger am Haus machen.
Z: ... ist gefährlich: der eine arbeitet am Haus, der andere gibt Geld ...?
M: Bis jetzt hat niemand eine ständige Arbeit. Die Leute sind noch sehr jung, zwischen 19 und 25 in der großen Mehrheit.
C: Gibt es Leute, die sagen, 'die Bewegung nimmt so stark zu und es ändert sich alles, es hat gar keinen Sinn mehr, daß ich an der Uni weiter studiere, wir müssen unser ganzes bisheriges Leben ändern, alles hinschmeißen und ganz in diese Bewegung einsteigen.' Gibt es eine solche Tendenz?
M: Ich würde sagen »ja«, aber das ist relativ. Viele unterbrechen ihr Studium, es gibt Leute, die nie wieder arbeiten gehen wollen, andererseits ist es fast schon zynisch, wie wir die Erfahrung unserer Eltern sehen: sie wollten auch die Revolution machen und sind gescheitert. Viele halten einen Bruch (nicht mehr zu arbeiten usw.) nicht für die einzig mögliche radikale Strategie. Es gibt in der Bewegung sehr starke radikale Tendenzen, die jeden Kompromiß ablehnen usw. - aber in dieser Gesellschaft ist es immer möglich, das Studium wieder aufzunehmen o.ä. In meiner Gruppe bin ich die einzige mit Studienabschluß, die anderen haben mit der Uni aufgehört.
Z: ... die haben vielleicht aufgehört, sie können den Abschluß aber nachholen. Wie in der Bewegung in den 80ern: die haben jahrelang die Uni ruhen lassen, und als nichts mehr los war, ihren Abschluß gemacht ...
F: ... ja das kannst du immer machen, oder?
Z: Es gab ja auch andere, die haben mit dem Studium aufgehört und sind zum Arbeiten in die Fabrik gegangen.
M: Es gibt auch Leute, die das Studium abgebrochen haben und arbeiten gegangen sind. Mit denen ist die Diskussion oft sehr schwierig, weil sie jetzt z.B. in 'ner Bank arbeiten und sich als Helden der Arbeiterklasse aufführen.
F: Meine politischen Aktivitäten haben mein Leben soweit verändert, daß ich mir schon überlege, was ich mit meinem Leben anfange, ob ich irgendwann einen beschissenen Job mache, wo ich total viel arbeiten muß usw. Aber trotzdem hab ich immer Möglichkeiten, das zu ändern, auch wenn ich das Studium abgebrochen haben sollte!
C: Gibt es in der Bewegung die Tendenz, daß viele Leute nicht so weiterleben wollen wie bisher? Mir ist das zu existenzialistisch, wie dieser 'Bruch' thematisiert wird! Das kann ja auch ein Akt von Selbstmarginalisierung sein. Ich wollte verstehen, ob es eine Aufbruchstimmung in der Bewegung gibt.
M: Es gibt einige Gruppen, die einen sehr radikalen Bruch gemacht haben, sie haben eine lange kollektive Geschichte und konnten deshalb ein »alternatives Leben« aufbauen. Sie sind Aktivisten rund um die Uhr, immer auf der Straße, bei jedem Kampf dabei, sie können alles selber machen, brauchen niemand anderen, haben keine Verbindung zu anderen Kämpfen, zu traditionellen Streiks, keine Verbindung zu dieser Gesellschaft - und sie haben immer eine innere Krise, das ist ihr erstes Problem und darum kümmern sie sich, sehr klug und umsichtig, aber es bleibt immer das wichtigste Problem - ist das überhaupt relevant bei der Frage, wie wir diese Gesellschaft ändern können? Meiner Ansicht nach ist die Frage offen, wie die Radikalisierung aussehen kann und wo »der radikalste Punkt« ist.
W: Ist der Begriff »Bewegung« überhaupt angebracht? Eine Bewegung zeichnet sich dadurch aus, daß viele Neue dazukommen, Leute, die ihr bisheriges Leben radikal umkrempeln. Das findet doch bisher nicht statt - eigentlich können wir (noch?) nicht von einer Bewegung sprechen....
M: Für junge Leute ist es nicht sehr riskant, ein Risiko einzugehen: das Studium zu unterbrechen o.ä. - sie haben noch keine Familie usw. - und du kannst dein Studium jederzeit wieder aufnehmen. Andererseits könnte ich sagen, das sind Leute, die machen einen richtigen, großen Bruch, das ist absolut wichtig, das ändert alles: ihre Meinung, ihr bisheriges Leben usw. Wir könnten aber genausogut sagen: was wird aus ihnen in 5, 6 Jahren geworden sein? - Dazu hab ich keine Ahnung, wirklich nicht!
W: Wir sollten die Frage nach der Aufbruchstimmung nicht zu einem moralischen Argument umdrehen, à la »wir erwarten von jeder und jedem, die sich einer revolutionären Bewegung anschließt, daß sie einen radikalen Bruch macht« - mit diesem Argument haben die Anti-Imps in den 80er Jahren die Bewegung von innen heraus kaputt gemacht: wer mehr als einen Schlafsack und ein paar Kampfstiefel hat, ist schon ins System integriert usw.. Diese Mythologie des »radikalen Bruchs« dient heute der postmodernen Beliebigkeit als Argument: »weil der radikale Bruch falsch war, machen wir auf Beliebigkeit. Ich mache beruflich Karriere, mische in der Pop-Kultur mit und politisch engagiere ich mich ein bißchen und schreibe in der Arranca!« - Deshalb bin ich an diesem Punkt sehr vorsichtig.
F: Natürlich muß sich jede/r überlegen, was sie oder er aus seinem Leben macht. Ich muß doch sehen, wie ich in dieser Gesellschaft zurechtkomme. Ich habe gewisse Wünsche, und da muß ich sehen, daß ich möglichst wenig arbeite, um mehr Zeit für mich zu haben. Kann ich trotzdem einen Job haben, der zumindest mich nicht ganz so stark entfremdet? Ich muß mir über mein Leben Gedanken machen, wie komm ich am besten zurande. Das ist bisher die Schwäche der Bewegung: es sind zu wenige aktiv und deshalb können sie sich in solchen Punkten gar keine radikaleren Gedanken machen.
M: Die jungen Leute wollen Aktivisten sein, ihr eigenes Leben führen usw. Sie haben einen wichtigen Bruch gemacht, sind aber schlau genug zu wissen, daß es ein großes Risiko gibt, daß es ihnen so wie ihren Eltern geht, die auch einen Bruch machen wollten und heute hohe Chefs in Unternehmen, Dozenten usw. geworden sind. Deshalb bedeutet es meiner Generation nichts mehr, zu sagen »Ich bin Revolutionär für mein ganzes Leben«; denn es gibt immer die Möglichkeit, sich zu de-radikalisieren. Ich sehe das positiv, weil es den Realismus der Bewegung zeigt, sie sind aufmerksam und sprechen auch darüber. Viele aus der Bewegung, die 30 und älter sind, verabschieden sich aus der Bewegung, gehen aufs Land und organisieren dort Projekte. Wenn du zwei Jahre in einem besetzten Haus ohne Strom und Warmwasser lebst, dann kommt der Zeitpunkt, wo du entweder Warmwasser im Haus haben willst, oder halt mit dem Projekt aufhörst.
F: Der entscheidende Punkt ist, daß Politik auch Spaß machen muß. Für mich ist das eine Frage von Lebensphilosophie: inwieweit haben sich Leute der Warengesellschaft, dem Konsum und dem ganzen System schon unterworfen und merken es vielleicht gar nicht, wenn sie arbeiten, um sich Klamotten oder ein neues Auto kaufen zu können. Und es ist auch nicht Sinn der Sache, daß Leute immer nur ganz straight Politik machen und keinen Spaß mehr daran haben. Sinn der Sache ist eine befreite Gesellschaft, sich selber entfalten zu können. Das ist die Frage, die für mich im Vordergrund steht, was die Leute für ne Lebensphilosophie haben.
M: Das find ich auch! Ich glaube, daß Spaß, Lust, Kreativität usw. wirklich wichtig sind. Wir wollen Aktivismus als Leben machen und nicht als messianischen Opfertrip. Und das bedeutet, sich mit Leuten in besetzten Häusern nicht nur deswegen auseinanderzusetzen, weil besetzte Häuser gut sind, sondern weil sie unsere Freunde sind und wir Lust haben zusammenzuleben, auch wenn wir politisch unterschiedliche Ansichten haben. Das tägliche Zusammenleben wird wichtig, um fähig zu sein, was zusammen aufzubauen und auch als politische Arbeit. Das Netzwerk hält zusammen, weil es einen Konsens über die innere Organisation gibt und nicht weil man sich über alle theoretischen Fragen wie Marxismus oder Anarchismus, Klassenkampf oder so einig wäre. Ich halte das für einen sehr wichtigen Punkt.
Ich habe auch Kontakt zu traditionellen Gewerkschaftsgruppen, organisierten Arbeitslosen usw., und jedesmal wenn ich solche Leute treffe, bin ich schockiert darüber, wie traurig sie sind, wie schrecklich sie ihr Leben empfinden. Es gibt auch im KP-Umfeld Arbeitslosengruppen, die sich gegen die Arbeit aussprechen, aber trotzdem leiden sie unter ihrer Arbeitslosigkeit. Wir dagegen sind froh uns zu treffen und wir kämpfen, weil wir Lust darauf haben und nicht nur, weil wir uns schlecht fühlen.
Es gibt große Unterschiede zwischen Frankreich und Deutschland, aber ich sehe auch viele Ähnlichkeiten: daß Politik Spaß machen soll, der Bezug auf die Umwelt, das unklare Verhältnis der politischen Theorie gegenüber.