Der „dauerhafte Frieden“ - Willkommen im Überwachungsstaat
Rote Hilfe Newsletter # 2, Brandenburg, Auflage: 200 Stück
abgedruckt im Schwarze Katze Rundbrief 15.11.02

Am 11. September 2001 hat mit den verurteilungswürdigen Anschlägen auf das World Trade Center und das Pentagon in Washington eine Zäsur stattgefunden, so einhellig die Schlagzeilen in den Medien und die Aussagen der PolitikerInnen. Während hier alle auf den Krieg warteten, rannten die Law-and-Order-StrategInnen mit den Wunschzetteln der Geheimdienste und Verfolgungsbehörden bereits bei PolitikerInnen offene Türen ein. Sämtliche undemokratischen Tabuthemen der Nachkriegsordnung stehen auf der Tagesordnung, die rot-grüne Regierungskoalition und die konservative Opposition übertreffen sich in den Vorschlägen zum Abbau demokratischer Rechte und Freiheiten. Die Innenpolitik wird derzeit zur Fortsetzung des Krieges mit sicherheitspolitischen Mitteln. Der Einsatz der Bundeswehr im Inneren, die Aufhebung der Trennung von Geheimdiensten und Polizei, die Aufhebung des Datenschutzes und die Abschaffung der Unschuldsvermutung, die früher auf einen breiten Widerstand stießen, werden derzeit auf breiter Basis umgesetzt. GegnerInnen dieser Maßnahmen werden diffamiert und ausgegrenzt. Das zeigen nicht zuletzt die Äußerungen gegen Ulrich Wickert, als dieser von ähnlichen Gedankenstrukturen zwischen Bin Laden und George W. Bush philosophierte. Ohne diese Meinung teilen zu müssen, muss auch für „unbequeme“ Meinungen das Recht auf freie Meinungsäußerung gelten.

Es scheint, als hätten die SicherheitsstrategInnen nur auf diesen Moment gewartet, um ihre lang nicht durchsetzbaren Träume vom Orwell´schen Staat umzusetzen. Dass es ihnen dabei gar nicht um die Bekämpfung des Terrorismus geht, zeigt sich z.B. an der Feststellung von CDU-Mitgliedern des Berliner Innenausschusses, die zugeben mussten, dass alle getroffenen Maßnahmen den Anschlag gegen das World Trade Center nicht hätten verhindern können. Sogar der ehemalige Innenminister Baum (FDP), der unter anderem die sogenannten „Terroristengesetzen“ in den 70er Jahren zu verantworten hat, stellt die derzeit getroffenen Maßnahmen weitgehend in Frage. Man kann die Demokratie nicht schützen indem man sie abschafft.

Das Inkrafttreten der Notstandsgesetze
Durch eine rot-grüne Regierung, der zahlreiche ehemals erbitterte GegnerInnen von Notstands- und „Anti-Terrorie-Sondergesetzen“ angehören, wurde der Ausrufung des NATO-Bündnisfalls nach §5 des Beistandsvertrages zugestimmt. Damit wurde zum ersten Mal in der Geschichte der BRD ein Teil der 1968 verabschiedeten Notstandsgesetze in Kraft gesetzt. Den Behörden und Exekutiven wird damit der Schlüssel zu den sog. „einfachen Notstandsgesetzen“ gereicht, in denen die Ver- sorgung der Zivilbevölkerung, der Streitkräfte und anderer “Bedarfsträger“ geregelt wird: Das Verkehrsicherungsgesetz etwa ermächtigt zum Eingriff in die Verkehrsplanung und Personenbeförderung. Das Wirtschaftssicherungsgesetz regelt den staatlichen Zugriff auf die gewerbliche Wirtschaft, ähnliches beim Ernährungssicherstellungsgesetz. Ebenso in Kraft getreten ist das erweiterte Katastrophenschutzgesetz.

Bisher ist keine Anwendung der Notstandsgesetze bekannt, dennoch wurde mit der Endriegelung dieser Gesetze ohne Bundestagsbeschluss das bisher praktizierte Prinzip des „Parlamentsvorbehalts“ außer Kraft gesetzt, eine zukünftige Anwendung in innenpolitischen Krisen ist damit prinzipiell möglich geworden. Diese Gesetze richten sich nicht gegen so genannte „Terroristen“, sondern gegen alle in Deutschland lebenden Menschen.

Im Laufschritt ins Jahr 1984
Die weiteren Verschärfungen, die bereits als „Anti-Terror-Maß-Nahmen“ verabschiedet wurden oder noch in den Schubladen der Law-and-Order-StrategenInnen lagern, stellen anders als das Inkrafttreten eines Teils der Notstandgesetze keine Neuerung dar, sondern sind nur die konsequente Weiterführung eines Abbaus von Grund- und Bürgerrechten, der bereits vor Jahren begonnen hat, jetzt jedoch auf der Überholspur.Am 18. September beschloss die Innenministerkonferenz (IMK) ein „Maßnahmebündel zur Bekämpfung extremistischer und terroristischer Bedrohung“, das folgende Punkte umfasst:

- Einführung einer restriktiveren Visa-Erteilung, mit Überprüfung von Besuchszweck und Besuchsadresse, Schaffung rechtlicher Voraussetzungen für Identifizierungsmaßnahmen und Datenübermittlung an Sicherheitsbehörden sowie bei BesucherInnen „bestimmter Staaten“ Überprüfung durch den Verfassungsschutz.

- Wiedereinführung der Rasterfahndung zum Aufspüren „islamistischer Terroristen, die Deutschland als Ruheraum oder logistische Basis nutzen“. Das heißt, wer einem oder mehreren Merkmalen dieses Rasters entspricht (sei es durch Herkunft, Vereinszugehörigkeit, Freundeskontakte, Arbeitsplatz o.ä.) wird automatisch verdächtig und überwachungswürdig. In den siebziger Jahren landeten durch die Rasterfahndung bei der Suche nach RAF-Mitgliedern und „SympathisantInnen“ tausender von Menschen in Polizeiakten und wurden überwacht und kriminalisiert. In der heutigen gesellschaftlichen Stimmung ist die Rasterfahndung, wie sie derzeit schon an bundesdeutschen Hochschulen eingesetzt wird, diskriminierend und rassistisch. Vorhandene Ressentiments werden geschürt, ganze Bevölkerungsgruppen als Kriminelle vorverurteilt.

- strengere Sicherheitsüberprüfungen für Flughafenpersonal. Das kann zur Folge haben, dass ArbeiterInnen entweder ihren Arbeitsplatz verlieren oder nicht angestellt werden, weil sie in obigem Raster hängen bleiben. - Schaffung gesetzlicher Voraussetzungen zum Einsatz der Bundeswehr nicht nur zur Sicherung von NATO- und Bundeswehreinrichtungen, sondern auch zum Schutz anderer „gefährdeter Objekte“. Damit wird der langgehegte Plan, die Bundeswehr auch zur Sicherung der „inneren Sicherheit“ einsetzen, möglicherweise in die Realität umgesetzt. Erstmals droht diese Tatsache auch auf eine breite Akzeptanz in der Bevölkerung zu stoßen. Sogar die wenigen Lehren, die 1948 aus dem Faschismus gezogen wurden (z.B. Trennung von Geheimdiensten und Polizei oder auch das Verbot des Einsatzes der Armee im Inneren) scheinen mittlerweile bei Medien und Bevölkerung in Vergessenheit geraten zu sein.

- Prüfung der rechtlichen Möglichkeiten zur Übermittlung von Daten des Bundesamtes zur Anerkennung politischer Flüchtlinge an Sicherheitsbehörden. Datenschutz scheint für diese Bevölkerungsgruppe damit fast vollständig der Vergangenheit anzugehören. Damit wird der weiteren Verfolgung politischer Oppositioneller (z.B. Mitglieder demokratischer oder linker Gruppierungen im Herkunftsland) durch hiesige Behörden freie Bahn geschaffen. Ebenso soll ein automatisierter Fingerabdruckabgleich aus dem Asylantragsverfahren mit Dateien des Bundeskriminalamts erfolgen.

Schon in Gesetze gegossen wurde ein Zusatz zum Sondergesetz §129 im Strafgesetzbuch. Der §129b stellt jetzt auch die Mitgliedschaft/Unterstützung in einer terroristischen Vereinigung unter Strafe, die ihren Sitz im Ausland hat. Es ist anzunehmen, dass in Zukunft eine willkürlich wählbare oder konstruierbare „terroristische Vereinigung“ im Ausland benutzt wird, um AusländerInnen in der BRD zu kriminalisieren und nach §129 zu verfolgen, obwohl ihnen keine Straftat nachgewiesen werden kann. Als Unterstützung im Sinne des §129 gilt ja nach gängiger Rechtssprechung schon eine Meinungsäußerung zugunsten einer solchen Vereinigung. Denkbar ist auch, dass politische Flüchtlinge, deren oppositionelle Organisationen oder Befreiungsbewegungen in den Heimatländern ja meist als „terroristisch“ bezeichnet werden, hier in der BRD weiter verfolgt werden. Nach welchen Kriterien erfolgt die Einstufung einer sog. „terroristischen Vereinigung“? Wie soll ein Beweis bzw. Gegenbeweis erbracht werden, dass eine Vereinigung im Ausland als „terroristisch“ einzustufen ist? Der juristischen Willkür ist Tür und Tor geöffnet! Darüber hinaus werden allerorts weitere Lösungskonzepte auf den Tisch gelegt: der bayerische Innenminister Beckstein plant die Einführung der Videoüberwachung öffentlicher Plätze jetzt nicht nur für sog. „Angsträume“, sondern flächendeckend. Die Bestimmungen des Datenschutzes, die es den Behörden zumindest ein wenig schwerer machen bei der umfassenden Überwachung, werden als „Terroristenschutz“ diffamiert. Es gibt Diskussionen über die Abschaffung bzw. Lockerung des Bankgeheimnisses, von anderer Seite werden Polizeidateien für „unauffällige Ausländer“ gefordert. Verdächtig ist plötzlich wer bisher unauffällig seinem Alltagsleben nachging. Es wird nun jedeR AusländerIn pauschal verdächtigt, rein aufgrund der Herkunft, potenziell zum/zur MassenmörderIn werden zu können.

Treffen kann es jeden - vor allem soziale Bewegungen!
Stück für Stück werden die Grundpfeiler der „freiheitlich-demokratischen Grundordnung“ demontiert, die von den gleichen Stimmen so gerne als Errungenschaften gegenüber den sog. „Unrechtsstaaten“ präsentiert werden. Individual- und Bürgerrechte wie Bewegungsfreiheit, Freiheit der Berufswahl, Post- und Fernmeldegeheimnis, Datenschutz, Bankgeheimnis, Religionsfreiheit, die alle das Recht des Individuums vor dem Zugriff des Staates sichern sollen, stehen zwar weiterhin im Grundgesetz, aber wer aus irgendeinem Grund aus der geforderten Norm fällt, sei es durch mangelnde Staatstreue, nicht-christlichen Glauben, sexueller Neigung, Hautfarbe oder sonstigen oft willkürlich gewählten Eigenschaften, wird die Grenzen dieser „Grundrechte“ schnell zu spüren bekommen. Heute sind alle Muslime pauschal ins Visier geraten, aber morgen kann es jede andere Bevölkerungsgruppesein, die das Selbstverständnis des Staates real oder nur scheinbar in Frage stellt. Treffen kann es damit über kurz oder lang vor allem soziale Bewegungen, seien es nun AtomkraftgegnerInnen oder streikende ArbeiterInnen. Den SicherheitsstrategInnen ist es letztlich egal, wer im Raster hängen bleibt und staatlicher Überwachung und Verfolgung ausgesetzt wird.

Was helfen diese Massnahmen?
Offensichtlich sind die Mächtigen dieser Welt nicht gewillt, die sozialen, politischen und religiösen Ursachen für den „islamistisch fundamentalistisch“ begründeten Terrorismus zu erkennen und dagegen anzugehen. Wenn es in der arabischen Welt heißt, dass ein Krieg tausende neuer Bin Ladens schafft, beweist dies nur, das dieses Problem nicht mir der Abschaffung demokratischer Freiheiten und dem Werfen von Bomben zu bekämpfen ist. Selbst manche SicherheitstrategInnen zeigen Bedenken an der Wirksamkeit dieser Maßnahmen gegen religiös-fanatischen Terrorismus. Dieser Weg führt nicht etwa zu einem weltweiten friedlichen Zusammenleben, sondern in einen globalisierten Überwachungsstaat. Diesen Überwachungsstaat zu wollen und damit einen eigenen sicherheitspolitischen Profit aus tausenden Opfern der Anschläge zu ziehen muss man den Law-and-Order-FanatikerInnen in Politik und Medien, die derzeit die Diskussionen bestimmen, unterstellen. Sie werden die Konflikte nicht lösen sondern verschärfen, sie legen den Grundstein für weitere blutige Auseinandersetzungen, die auf dem Rücken der Bevölkerung hier und weltweit ausgetragen werden.

Wir brauchen einen weltweiten sozialen und politischen Diskurs über die Ursachen und Lösungen, keine Bomben und Überwachungsstaaten. Eine Demokratie wird nicht verteidigt, indem man sie abschafft!

Mit bestem Dank an die Rote Hilfe München, wo wir den Artikel geklaut haben