[HH] G20 – Tage der Revolte

[HH] G20 – Tage der Revolte
Anarchist_innen für die soziale Revolte
Hamburg, Sommer 2017

Tausende Menschen trugen während des G20 Gipfels ihre Wut über die Bullengewalt und die Welt, die durch sie verteidigt wird, auf die Straßen Hamburgs.
Die Bullen machten schon in der Woche vor dem Gipfel klar, dass sie nicht zimperlich sein werden und unterstrichen ihre Linie mit dem direkten Angriff auf die Demonstration am Donnerstag Abend. Offenkundig wurden schwere Verletzungen oder gar Tote billigend in Kauf genommen, als der vordere Teil der Demonstration in einer engen Straßenschlucht unter Schlägen, Pfefferspray, Tränengas und Wasserwerfer-Einsatz auseinandergetrieben wurde – Panik entstand, es blieb für viele nur die Flucht über eine hohe Mauer. Viele wurden verletzt, aber es gab auch Szenen von beeindruckender Solidarität, als Menschen sich gegenseitig halfen, die Mauer zu erklimmen, die Bullen von oben stetig angegriffen wurden und sehr besonnene Reihen die Schläge der Bullen einsteckten, um den Rest der Demo zu schützen.

Der Knüppel im Gesicht, das Knie im Nacken, Pfeffer in den Augen sollen daran erinnern, wer in dieser Welt das Sagen hat.
In diesen Tagen trafen sich Vertreter der 20 reichsten Länder, um über den Fortbestand dieser Ordnung des Elends zu beraten. Abertausende Bullen sollten dieses Spektakel vor denjenigen schützen, die den arroganten Autoritäten anlässlich dieses Gipfels ihre Wut, ihren Hass, ihren Widerstand entgegenbringen wollten.

In der Nacht auf den Freitag nahmen sich bereits viele Menschen einen Teil der Würde, die uns diese beschissenen Verhältnisse Tag für Tag rauben zurück und griffen an etlichen Orten die Cops an, errichteten Barrikaden und verursachten mit Hämmern, Steinen und Flammen an vielen Stellen der Stadt Risse in der Fassade einer Gesellschaft, in der nur Platz für diejenigen ist, die funktionieren, konsumieren und sich anpassen.
Kaum waren die Barrikaden der Nacht gelöscht, gingen am frühen Morgen des Freitags die ersten Autos in Flammen auf. An verschiedenen Orten der Stadt machten sich Gruppen auf den Weg um zu zeigen, dass es an diesen Tagen um mehr gehen sollte als um den Angriff auf ein Treffen von Staatsoberhäuptern. Unter anderem Immobilienbüros, Luxusautos, die Jugendgerichtshilfe, Banken und die glitzernden Fassaden der Einkaufshöllen wurden Ziel von Angriffen und auch die ersten Cops mussten unter Angriffen die Beine in die Hand nehmen. An vielen anderen Orten der Stadt blockierten andere Massenhaft mit Sitzblockaden und Demonstrationszügen, ohne dass sich die Mittel, für die sich Menschen entschieden, in die Quere kamen.

Am Freitag entlud sich die Wut mit einer disruptiven Wucht, die in diesem Kontext leider selten ist.

Die bürgerliche Friedhofsruhe zu stören und die Normalität zu unterbrechen, die Stadt der Reichen und des Konsums am Funktionieren zu hindern und keinen Zweifel daran zu lassen, dass der Bullenstaat uns nicht am Leben hindern kann, ist eine sehr bestärkende Erfahrung.

Freitag wurde sich ein Stück des Raumes, den die Autoritäten im Interesse ihrer Herrschaftsinszenierung den Menschen in dieser Stadt mit aller Gewalt abgetrotzt haben, für einige Stunden zurückerkämpft.
Mittels brennender Barrikaden und beständigen Angriffen auf die Bullen wurde ein Raum geschaffen, in dem Menschen sich für einige Stunden unabhängig von der Macht des Staates entscheiden konnten, was sie tun wollen.
Es wurde geplündert, Menschen nahmen sich, was sie brauchten oder wollten, andere wiederum zerstörten Symbole der jeden Sinn für ein wildes, freies Leben abtötenenden Welt des Konsums und machten sie zum Raub der Flammen.
Es zeigte sich eine beeindruckende Vielfalt von Menschen, die sich an diesem Tag die Straße teilten, plünderten, Barrikaden errichteten und die Cops angriffen – viele von ihnen vermutlich nicht Teil irgendeines Protestmilieus.

Wenn irgendein selbsternannter Sprecher von irgendwem sagt, dieser Krawall habe sich an sich selbst berauscht und er habe keine politische Ausrichtung, dann muss man ihm bei allem Ekel gegenüber seinem kriecherischen Opportunismus recht geben:
Dieses notwendigerweise gewaltvolle Abtrotzen eines Raumes, der nicht von den Bullen dominiert wird, welches einen grundsätzlichen Bruch mit dem bedeutet, was uns hier Tag für Tag auferlegt wird, hat nichts mit einer politischen Agenda oder dem Programm irgendeines Bündnisses zu tun, sondern mit der individuellen, völligen Wiederaneignung unserer Leben.

Wenn damit hier und dort ein gewisses Unbehagen, im Zweifel sogar Angst vor einer Situation, in der die gewohnte Ordnung in der Tat aus den Fugen gerät einhergeht, ist das nachvollziehbar und notwendiger Bestandteil eines grundsätzlichen Bruches mit dieser Realität.

Wir müssen uns ferner die Frage stellen, um wessen Angst vor wem oder was es hier geht. Wenn eine so satte und reiche Gesellschaft wie die dieser Stadt des Geldes und des Handels um ihr Eigentum bangt und das Fürchterliche an den Zerstörungen die Tatsache ist, dass dort Waren entwendet und Einkaufsmöglichkeiten verwüstet wurden, dann gehört diese Gesellschaft zerstört.

Unsere Domestizierung in dieser Welt der Autorität ist sehr umfangreich.
Der vielbeschworene Bulle im Kopf ist hartnäckig.

Wenige können sich vorstellen, was es bedeutet die Autoritäten zu vertreiben, deswegen müssen wir Momente schaffen, in denen wir ihre Abwesenheit erleben.
Das Menschen auch in diesen Situationen Entscheidungen treffen, die im Nachhinein als nicht richtig oder verantwortungsvoll erscheinen, ist in diesen Momenten wie in allen anderen Lebenssituationen nicht besonders überraschend. Auch über diese Dinge muss geredet werden, wenn wir einer Vorstellung von Freiheit näher kommen wollen. Dennoch muss klar sein, dass es keine Objektivität gibt – schon gar nicht in der Revolte. Sie besteht in ihrem Kern aus der individuellen Verantwortung und Initiative all jener, die zu ihr beitragen wollen.

Es ist dieser Tage offenkundig sehr einfach, dem Diskurs der Autoritäten und Bewahrer_innen dieser Ordnung auf den Leim zu gehen. Diejenigen, die dieser Tage bereitwillig Leben aufs Spiel setzten, waren die Bullen – daran gibt es nichts zu rütteln.
Sich im Angesicht der Hetze und Propaganda die bestärkende und befreiende Erfahrung dieser Momente streitig machen zu lassen, wäre ein großer Fehler.

An diesem Wochenende hat der Widerstand den Rahmen des politisch opportunistisch durchorchestrierten Protests verlassen und es zeigt sich abermals, dass es in der Revolte immer wieder um die Frage geht, für welche Seite sich entschieden wird.
Für die Seite derer, die diese Gesellschaft, diese Ordnung, dieses System in Trümmern sehen wollen im Sinne eines Lebens in Freiheit und Würde, mit allen Fehlern und Triumphen, die die Revolte mit sich bringt.
Oder für die Seite derer die im Zweifel feststellen, dass sie ein kuschliges, kalkulierbares Protestmilieu im Rahmen der Sicherheit der totalitären Verhältnisse dem tatsächlichen Aufbruch in die Fröste der Freiheit vorziehen.

Die Frage „Gewalt – ja oder nein?“ ist falsch

Der folgende Text ist eine spontane Erklärung einiger
beteiligter und die Abläufe mitverfolgender Personen aus dem
Umfeld der Projektwerkstatt in Saasen und des Aktionsraumes
in Gießen.

Die Frage „Gewalt – ja oder nein?“ ist falsch
Aktivist*innen fordern mehr Qualität statt Bekenntnisse
Presseinformation, 08.07.17

Die überwältigende Mehrheit aller an den Auseinandersetzungen der
vergangenen Tage in Hamburg beteiligten Personen und Organisationen
hat sich bekenntnishaft über die Legitimität von Gewalt als Mittel
des politischen Protestes oder als Mittel der uniformierten
Sicherung stattlicher Macht geäußert. Das gilt sowohl für die dort
versammelten Politiker*innen als auch für Journalist*innen und die
meisten der Aktivist*innen und Führungspersonen politischer
Organisationen und Netzwerke. Die Frage nach der Qualität
politischer Protestaktionen blieb dabei auf der Strecke. Kaum eine
Stimme war hörbar, die sich mit der Art militanter Aktionen
auseinandersetzte.

Das Gleiche gilt für die sogenannten friedlichen Proteste, die ihre
einzige Legitimation aus der Ausgrenzung zur dogmatischen
Ablehnung von Gewalt zu ziehen schien. Dabei war vor
allem auffällig: Fast alle Aktionen in Hamburg, die öffentlich
sichtbar wurden, waren stumpf, inhaltsleere, ritualhaft und wenig
von der Kreativität der Einzelnen geprägt. Stattdessen wurden sowohl
Militanz als auch Gewaltfreiheit fetischisiert. Befürwortung und
Ablehnung erfolgten als Bekenntnis und verdeckten, dass bei fast
allen Aktionen Inhalt und Qualität mangelhaft waren. Die öffentliche
Berichterstattung reduzierte sich in der Folge auf die Nachricht
„friedlich“ oder „gewalttätig“. Damit haben sowohl die plakative
Gewaltfreiheit wie auch die plakative Militanz die Inhalte verdeckt.

Statt der Fortsetzung der dogmatisch orientierten Debatte um
Militanz oder Gewaltfreiheit rufen wir zu mehr Qualität auf:

* Aktionen müssen so ausgerichtet sein, dass sie unsere Inhalte
und Forderungen sichtbar machen.

* Aktionen müssen die Unterschiedlichkeit unserer Auffassungen und
Vorlieben zum Ausdruck bringen. Statt vereinheitlichender
Schulungen und Aktionsstrategien gilt es, uns viele
unterschiedliche Ausdrucksformen anzueignen und in die Praxis
umzusetzen. Demos mit Tausende von Menschen, die sich weitgehend
gleichförmig verhalten, sind immer eine Verschwendung unser
Möglichkeiten – egal ob gewaltfrei oder militant. 1000
ausdrucksstarke Gruppen a 10 Leute mit eigenen Ideen sind viel
mehr wert als ein geschlossener Zug von 10.000 Menschen.

* Kriterium für die Bewertung von Aktionen muss deren
emanzipatorische Qualität und Ausdrucksstärke sein. Die Ohrfeige
von Beate Klarsfeld gegen Kurt-Georg Kiesinger oder der
militante Kampf der Roten Zora gegen den frauenausbeutenden
Adlerkonzern sind nicht das Gegenteil der Sitzplatzwahl von Rosa
Parks oder der Besetzung von Genversuchsfeldern, sondern sie
sind sich hinsichtlich der relevanten Qualitätsmerkmale vor
allem ähnlich. Nur die Bekenntnisdebatte um Militanz und
Gewaltfreiheit macht sie zu Gegenteilen.

* Um einen Qualitätssprung sowohl bei militanten als auch bei
sogenannten gewaltfreien Aktionen zu erreichen, muss die Macht
derer gebrochen werden, die an bekenntnishaften, ritualisierten
und dadurch leicht führbaren Protestformen Interesse haben.
Dieses sind die Sicherheitsbehörden des Landes, aber auch die
Vorstände, Sprecher*innen usw. der politischen Bewegungen – wie
auch immer sie ihre Kreise nennen, die andere Menschen
vereinnahmen, steuern, um Spenden erleichtern oder für sie
sprachen wollen.

Die entscheidende Frage ist nicht: Gewalt – ja oder nein? Die
entscheidende Frage ist die nach der Qualität unserer Aktionen. Die
Gewaltdebatte verschleiert, dass hier ein riesiger Nachholbedarf
besteht.